Erchirion drehte sich im Laufen um, lief rückwärts weiter und sah seinen Kameraden Arcuen entgeistert an. "Wanderlied? Du willst jetzt nicht wirklich singen, oder? Wenn dem so ist, so ... nein, ich singe nicht!" Der Prinz sang höchstens, wenn er zu viel getrunken hatte und natürlich waren selbst dann seine Künste äußerst beschränkt. Aber wenn Arcuen singen wollte, nun gut, dann sollte er es doch tun. Aber ohne Erchirion!
Sie erreichten nun einen kleinen Pfad und Erchirion wäre beinahe gestolpert, da er noch immer in die entgegengesetzte Richtung sah. Diesen Pfad würden sie eine ganze Zeit lang folgen. Der Prinz war auch mittlerweile wieder gut zu Atem gekommen. Er hätte sogar nicht einmal etwas gegen ein weiteres Wettrennen gehabt. So wurde es einem wenigstens warm.
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Hinfallen, Aufstehen, Krone richten, weiter gehen ...
»Gut«, nickte Sarion noch aufmunternd und beendete damit das Gespräch. Er hoffte nur, dass Arcuen nicht in Schweigen verfallen würde und sich weiterhin so wenig am lustigen Gespräch zwischen ihm und Erchirion beteiligte.
In normalem Tempo liefen sie weiter und folgten dem schmalen Pfad. Plötzlich schlug Arcuen vor, dass sie doch etwas singen könnten. Mit hoch gezogener Augenbraue blickte Sarion ihn über die Schulter hinweg an. ›Da hast du dich wohl doch geirrt‹, stellte er belustigt fest. Scheinbar war wirklich nichts, denn wenn dem jungen Mann etwas auf dem Herzen liegen würde, würde er wohl kaum ein Lied vorschlagen.
Erchirion schien allerdings genau Arcuens Vermutungen zu bestätigen. Scheinbar konnte er nicht singen. »Ich hab meine Flöte dabei. Einige Wanderlieder kann ich sicherlich spielen. Ich hab nur noch nicht im Laufen gespielt«, erklärte Sarion und grinste den Prinzen breit an, als dieser fast auf die Nase fiel. »Also Erchrion, da du eh hier entlang trampelst, kannst du auch singen. Mehr Kreaturen als ohnehin schon wirst du wohl nicht aufscheuchen«, neckte er seinen Kameraden und zog seinen Rucksack nach vorn, um nach der Flöte zu suchen.
»Der Waldläufer wächst mit seinen Herausforderungen!«, anwortete Arcuen grisend, als Sarion meinte, er habe noch nie im Laufen gespielt. Er hätte auch gern einmal ein Instrument gelernt, aber bis auf ein paar einfach Lauten-Griffe brachte der Dunadan leider nichts zustande. Immerhin war er ein passabler Sänger, auch wenn er es unangenehm fand, vor mehr als einer Handvoll Leute zu singen.
Gespannt wartete er, welches Instrument Sarion jetzt zu Tage befördern würde. »Was hast du denn in deinem Repertoire? Irgendetwas zum mitsummen?« Dass Erchirion nicht mitmachen wollte war schade, überraschte Arcuen aber nicht besonders. Er hatte hinter dem Prinzen ohnehin keinen begeisterten Sänger erwartet.
»Ich bin dir in dieser Kunst wahrscheinlich wenig voraus, aber gut... Du bist schließlich derjenige, der unsere musikalische Darbietung gleich ertragen muss.«, sagte der Waldläufer lachend.
Erchirion drehte sich mit einem finsteren Gesichtsausdruck zu Sarion um, meinte diesen Blick aber eigentlich nicht ernst. „Ich scheuche gar nichts auf! Und noch einmal: Ich singe nicht! ... Aber lasst euch nicht aufhalten.“
Erchirion schüttelte den Kopf, als auch noch Arcuen meinte, dass er es ja nun gleich ertragen musste. „Muss ich nicht!“ sprach er Prinz und rannte voraus. Sollten die doch singen, er kam auch ganz gut eine zeitlang alleine zurecht. Er wollte seine Kameraden wirklich nicht aufhalten. Nach einer weile verfiel der junge Waldläufer wieder in ein normales Marsch-Tempo. Falls Arcuen nun schon sang, hörte er es nicht mehr. Ein Lächeln schlich sich auf das Gesicht des Prinzen.
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»Natürlich!«, grinste Sarion zurück und wühlte weiter in seinem Rücksack. Die Flöte hatte die dumme Eigenschaft, dass sie nicht immer an dem Platz blieb, wo er sie hin gesteckt hatte, sondern gern in irgendwelche Lücken rutschte. Schließlich hatte Sarion sie doch gefunden, zog sie heraus und klopfte sie einmal aus.
»Normalerweise spiele ich abends am Lagerfeuer eher ruhige Lieder. Wenn es sein muss auch mal etwas zum Tanzen. Hm... ein Wanderlied?!«, Sarion überlegte eine Weile. Von einigen Liedern kannte er selbst nur die Melodie, nicht aber den vollständigen Text, denn schließlich sang er selten mit, wenn er spielte.
Gerade war ihm eins eingefallen, als Erchirion lieber die Flucht ergriff. »Feigling!«, rief Sarion ihm hinterher und blickte dann lachend zu Arcuen. »Wir sehen das jetzt nicht als Beleidigung, oder?«, fragte er scherzhaft und setzte die Flöte an die Lippen. Er begann ein altes Lied der Dúnedain zu spielen, dass Arcuen vielleicht kannte. Fragend blickte er diesen bei den ersten Tönen an und wartete darauf, dass er zu singen begann.
»Vielleicht ist es besser so - Erchirion weiß unser beider Talent wahrscheinlich überhaupt nicht zu schätzen!«, sagte Arcuen lachend zu Sarion, als der Prinz die Flucht ergriff. Rasch verschwand ihr Kamerad hinter der nächsten Biegung.
›Was ihn wohl daran stört? Daran ist doch nicht Ungewöhnliches.‹, dachte er und zuckte mit den Schultern, gespannt was Sarion jetzt vorschlagen würde. Das Lied, das dieser dann anstimmte, war Arcuen zwar nicht unbekannt, aber den Text hatte er nicht im Gedächtnis.
Also sagte er, vorsichtig mitsummend: »Die Dunedain sind da anscheinend nicht besonders kreativ - Ich bin mir sicher, eine Handvoll Lieder mit einer ähnlichen Melodie zu kennen. Hilf mir auf die Sprünge!«
»Vermutlich ist er als Prinz von Dol Amroth höhere musische Leistungen gewöhnt!«, witzelte Sarion noch, bevor er die Flöte an die Lippen setzte. Vielleicht mochte der Prinz auch einfach keine Musik. Oder fand er es albern? Gut, Sarion kam sich selbst ein wenig komisch vor, wie er hier so mit dem Flöte an dem Lippen durch den Wald lief und immer wieder versuchen musste, auf die Töne und gleichzeitig auf die Wurzeln auf dem Weg zu achten.
Arcuen summte die Melodie mit, erklärte dann jedoch, dass er den Text nicht kannte. Sarion setzte die Flöte ab und zuckte mit den Schultern. »Ich kenne ihn auch nicht!«, erklärte er dann lachend. Dann überlegte er einen Augenblick. »Wie wäre es mit diesem. Das ist eindeutig ein Wanderlied... ich weiß jedoch nicht, wo es herkommt. Im Herd das Feuer leuchtet rot, im Hause warten Bett und Brot... kennst du das?«, fragte er und spielte die Melodie der ersten Zeile. Vielleicht sollte er sich mal mehr mit den Liedern an sich, anstatt immer nur mit den Melodien befassen!
Sarion hatte sichtlich Schwierigkeiten, Flöte zu spielen und dabei gleichzeitig auf seine Füße zu achten. Aber er schlug sich wacker!
»Ja, dieses Lied kenne ich. Das hat mein Vater sehr geliebt, auch wenn es ein bisschen traurig ist. Ich glaube, dass es aus dem Norden kommt...«, sagte Arcuen und summte noch einmal eine Weile mit, um dann mit der ersten Strophe zu beginnen.
Zunächst sehr leise, denn es war eine ganze Weile her, dass er es zuletzt gesungen hatte und obwohl sie nunmehr zu zweit waren war er doch ein bisschen unsicher.
»Im Herd das Feuer leuchtet rot, Im Hause warten Bett und Brot; Die Füße sind noch nicht so wund, Daß nicht ums Eck ein seltner Fund Noch lockt, ein Baum, ein schroffer Stein, Den niemand sah als wir allein. Baum und Blüte, Laub und Gras, War es das? War es das? Unterm Himmel Berg und See, Geh nur, geh! Geh nur, Geh!«
Während des Singens merkte der junge Waldläufer plötzlich, dass ihm die Verse nicht so leicht von den Lippen gingen, wie er gedacht hatte - den sie erinnerten ihn sehr an die langen Spaziergänge und Ausflüge, die er früher mit seinem Vater, der vor einer Weile bei einem Einsatz gestorben war, unternommen hatte.
Diese Erinnerung versetzte Arcuen einen schmerzhaften Stich und er unterbrach sich kurz. ›Lass es endlich gut sein und vergiss, was längst hinter liegt!‹, dachte er wütend und ballte die Faust. Fast aus Trotz sang er schließlich weiter:
»Hinter der nächsten Biegung gleich Ein Tor führt ins geheime Reich, Und gehn wir heute dran vorbei, Steht morgen dieser Weg uns frei: Der fremde, der verborgne Pfad, Der bald der Sonn', dem Mond bald naht. Apfel, Dorn und Nuss und Schlehn, Wiedersehn! Wiedersehn! Tal und Teich und Sumpf und Wüst', Seid gegrüßt! Seid gegrüßt!
Die Heimat schrumpft, die Welt wird groß, Mit tausend Pfaden schrankenlos, Durch Dämmerung zum Rand der Nacht, bis alle Sterne sind entfacht. Dann umgekehrt, und geradeaus Geht's heim ins warme Bett und Haus. Nebel, Schatten, Wolkenwand, Seid verbannt! Seid verbannt! Herd und Lampe, Brot und Fett, Und dann zu Bett! Und dann zu Bett!«
Lächelnd schloss er den letzten Vers, die gute Laune einigermaßen zurückgewonnen.
»Das klang gut, lass uns noch eins spielen! ... Kennst du "Am Feuer sitze ich und denk"?«
Arcuen bestätigte, dass er das Lied kannte und begann dann mitzusummen. Erst sehr leise, schließlich lauter und irgendwann fing er an mitzusingen. ›Keine schlechte Stimme, der Junge!‹, stellte Sarion ein wenig erstaunt fest. Wo er vorhin doch noch etwas zögerlich war! Doch mit jeden Ton schien er sicherer zu werden und irgendwie nahmen auch die Gefühle zu, die er in seinem Gesang transportierte. Oder kam es Sarion nur so vor?!
Dreimal wiederholte Sarion die Melodie und stolperte dabei sogar nur einmal über eine Wurzel. Die letzten drei Töne ließ er noch einmal sehr intensiv und laut in den Wald erschallen, bevor er das Lied mit einer lang gezogenen Note beendete. »Hey, das war wirklich gut!«, lachte er zufrieden und klopfte seinem Kumpanen auf die Schulter. »Und du sagst, du könntest nicht besser singen als Erchirion!«, fügte er grinsend hinzu und nickte dann, als Arcuen nach einem zweiten Lied fragte. »Ja, ich glaube doch. Dieses hier oder?«, fragte er und spielte die Melodie an. »Wobei das auch nicht viel fröhlicher ist, als das letzte...«, überlegte er dann. Zumindest war die Melodie es nicht. »Was hältst du davon, wenn ich es einfach ein wenig schneller spiele, als es vorgesehen ist?«, fragte er dann grinsend und wiederholte die Noten von eben. Ja, so hörte es sich doch lustiger an.
Sarion hatte auch Lust, noch ein Lied zu spielen, aber offenbar hatte auch ihn das letzt ein bisschen traurig gestimmt.
»Ich finde, dass es einen sehr schönen Text hat und alles einfach schneller zu spielen, dem nicht gerecht würde. Außerdem kann ich es so nicht gut singen. Aber den Text können wir ja mit einer anderen Melodie kombinieren, die du kennst. Das funktioniert normalerweise immer bei Volksliedern. Spiel doch gern etwas Fröhlicheres!«
Vielleicht konnten auch damit den scheuen Prinzen wieder anlocken - schließlich konnte der nicht ewig vor ihnen weglaufen, und wenn sie sich ein bisschen Zeit ließen...
Arcuen war dagegen, das Lied einfach schneller zu singen. Also setzte Sarion die Flöte wieder ab und zuckte nur mit den Schultern. »Ich dachte nur, weil du ja das Ansehen der Waldläufer anheben wolltest«, erklärte er und zwinkerte dem jüngeren zu. Doch er verstand, dass es nicht einfach war, ein Lied so schnell zu singen.
Arcuens Vorschlag gefiel ihm dann aber auch. Er begann bereits, sich eine andere Melodie zu überlegen, bevor der junge Mann seinen Vorschlag ganz ausgesprochen hatte. Bald hatte er eine Melodie gefunden, die zum Versmaß passte und so setzte er die Flöte wieder an die Lippen und begann sie zu spielen, wobei er seinen Kumpanen fragend ansah. Konnte er dazu das Lied singen? Es würde sicher lustig klingen.
Sein Kamerad hatte bald eine ganz passende Melodie gefunden und Arcuen überlegte, wie er nun den Text passend unterbringen konnte. Das war nicht ganz einfach, aber auch wenn die ersten Verse noch etwas unsicher und unsauber klangen, klappte es bald ganz gut.
»Am Feuer sitze ich und denk An alles, was ich sah, Und Sommerzeit und Falterflug Von einst sind wieder da,
Altweiberfäden, gelbes Laub Im Herbst, der damals war, Mit Morgendunst und blassem Licht Und Wind auf meinem Haar.
Am Feuer sitze ich und denk, Die Welt ist wunderlich, Folgt auf den Winter doch der Lenz- Dereinst nicht mehr für mich.
So vieles gibt es immer noch, Das hab ich nie gesehn, Ist anders doch in jedem Jahr Das Grün des Frühlings schön.«
Kurz unterbrach er sich hier, gab Sarion aber ein Zeichen zum Weiterspielen. Die beiden letzten Strophen nämlich hatte er eine ganze Weile nicht gesungen, schlichtweg, weil sie so traurig waren.
›Es wird wohl Zeit, das mal zu ändern! Zu dieser frühlichen Musik wird es gehen...‹, dachte er und sang:
»An viele Leute denk ich da, Die sind schon längst nicht mehr; Wird nach mir noch so mancher sein, Der kümmert mich nicht sehr.
Doch wie ich da so sitz und denk, Da horch ich unverwandt Nach lieben Schritten an der Tür Und Stimmen wohlbekannt.«
Arcuen brauchte ein wenig, um den Text auf die neue Melodie anzupassen. Sarion hätte es jedoch nicht besser gekonnt! Er versuchte seinem Kumpanen zu helfen, in dem er bestimmte Stellen mehr betonte, andere weniger und so die Melodie besser auf den Text abstimmte, schließlich passte sie nicht Tongenau dazu. Doch schon nach der ersten Strophe hatten sie sich gut abgestimmt und es machte wirklich Spaß, das Lied so zu interpretieren.
Nach vier Strophen brach Arcuen plötzlich ab und Sarion sah ihn fragend an. Als der Jüngere ihm jedoch zu verstehen gab, dass er weiter spielen sollte, tat er dies und wiederholte sich, bis Arcuen wieder einstieg. Zum Schluss beendete er das Spiel mit einer sehr weich gespielten Note und wurde dann immer leiser. »Das war sehr gut, fand ich!«, lachte er zufrieden, als er schließlich die Flöte abgesetzt hatte. Trotzdem war ihm nicht entgangen, dass es Arcuen irgendwie berührt hatte.
»Ich habe nur das Gefühl, wir sollten als nächstes ein wirklich fröhliches Lied aussuchen!«, schlug er vor, ohne dabei wirklich auf die Stimmung des jungen Waldläufers einzugehen. Doch sein Blick war durchaus forschend! Fragen wollte er trotzdem nicht, schließlich hatte er Arcuen vor weniger Minuten erst angeboten, dass er mit ihm ruhig über die Dinge sprechen konnte, die ihn bewegten. Und drängen wollte er diesen auf keinen Fall.
Obwohl Erchirion bestimmt schon dreihundert Meter weiter war, hörte er ab und zu noch die Stimme Arcuens und das Flötenspiel von Sarion. Der Wind stand so günstig, dass er die Klänge noch bis zum Prinzen trug. Doch was genau gesungen wurde, konnte dieser nicht erkennen. Erchirion selbst hatte es sich zur Aufgabe gemacht die Vorhut zu bilden und den Weg auszuspionieren. Doch irgendwie gab es bisher nichts Interessantes zu entdecken.
Als er ein paar hundert Meter weiter gelaufen war, hielt der Prinz abrupt inne. Ein paar Meter abseits des Weges lag eine Gestalt auf dem Boden. Allen Anschein nach tot. Erchirion ging sofort in Deckung und pirschte sich dann leise heran. Als er nahe genug heran gekommen war, erkannte er, dass es sich um einen toten Ork handelt. Widerlich ...
Warum lag hier ein toter Ork-Körper und wer hatte ihn getötet? Dieser Körper zeigte Spuren eines Kampfes, bei welchem er den Kürzeren gezogen hatte. Waren noch mehr Orks in dieser Gegend? Vorsichtshalber blieb Erchirion in Deckung und stieß einen Warnschrei, den Ruf eines Habichts aus, so wie er ihn bei seiner Ausbildung gelernt hatte.
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Hätten die beiden Waldläufer zu diesem Zeitpunkt noch musiziert, wäre Erchirions Warnung womöglich im Flötenspiel untergegangen. So war er jedoch gut zu vernehmen und Arcuen, der gerade ein weiteres Lied hatte vorschlagen wollen, zuckte erschrocken zusammen. Routiniert öffnete er den Schlaufe, die die Haube von Bogentasche und Köcher verschloss und legte einen Pfeil auf die rasch gespannte Sehne. Vielleicht war es auch gar nichts Dramatisches, weswegen der Pinz sie warnte - möglicherweise nur ein aufgeschrecktes größeres Tier - doch sicher war sicher.
Wortlos zog der Waldläufer den Mundschutz über und gab Sarion mit einem Zeichen zu verstehen, dass er sich in die Büsche schlagen und dem Weg in kurzer Entfernung folgen würde.
›Es klang nicht, als wäre Erchirion besonders weit entfernt, ich muss also auf der Hut sein!‹, dachte er und tauchte im Gestrüpp unter, sogleich mit seiner Umgebung verschmelzend.
Sarion wollte gerade erneut die Flöte an die Lippen setzen, um nun ein fröhliches Lied vorzuspielen und damit vorzuschlagen, als Erchirions Warnruf durch den Wald scholl. Für jemanden, der nicht mit der Verständigung der Waldläufer vertraut gewesen wäre, hätte es vielleicht einfach nur noch einem Habicht geklungen, doch jeder der drei Soldaten kannte dessen Bedeutung.
Während Arcuen einen Pfeil auf die Sehne seines Bogens legte, zog Sarion leise sein Schwert. Stumm nickte er, als sein junger Begleiter ihm zu verstehen gab, dass er sich in die Büsche schlagen würde und deutete selbst mit der Hand, die immer noch die Flöte hielt, den schmalen Weg entlang. Bevor er fast lautlos dem Weg zu folgen begann, gab er Erchirion noch die bekannte Antwort, was zeigen sollte, dass sie seine Warnung vernommen hatten. Das Schwert bereit, um sich jederzeit zu verteidigen, schlich Sarion vorwärts. Es war beruhigend, dass er Arcuen nicht weit von sich verborgen und mit dem Bogen bewaffnet wusste und ihm klar war, dass er jederzeit auf dessen Deckung hoffen konnte, sollte sich ihm etwas unerwartetes in den Weg stellen.
Zwar bedeutete der Ruf des Habichts keine unmittelbare Gefahr durch einen direkten Angriff, sondern lediglich eine Warnung vor irgendetwas, doch gerade vor etwas, dass auf den ersten Blick möglicherweise harmlos aussehen konnte, musste man auf der Hut sein, um es so nicht zu unterschätzen. Nachdem Sarion etwa dreihundert Meter gelaufen war, blieb er stehen und sah sich nach Erchirion um. Der Lautstärke des Warnrufes und der Stellung des Windes nach zu urteilen, müsste sich Sarion schon sehr irren, wenn der Prinz nicht im Umkreis von fünfzig Metern irgendwo in Deckung lag. Wachsem ließ der Waldläufer seinen Blick durchs Unterholz streifen und entdeckte wenig später einen Kadaver. War es das, wovor der Prinz sie gewarnt hatte? Vorsichtig schlich er näher und traf schließlich auf Erchirion. Fragend sah er ihn an und deutete dabei auf den Ork. Es hatte keinen Kampflärm gegeben... und so wie das Biest aussah, hätte man zumindest irgendetwas gehört, wenn der Prinz es niedergemacht hätte.
Erchirion hatte hinter einem großen Busch, welcher von Bäumen umgeben war, Deckung gesucht. In der Hocke verweilend, wartete er nun auf seine Kameraden. Irgendwann hörte er die Antwort auf seinen Ruf und wusste so, dass sein Warnschrei auf Gehör gestoßen war. Es würde nicht lange dauern, bis die beiden anderen Waldläufer ihn erreicht hatten.
Der Prinz hatte sein Schwert gezogen. Wenn es wirklich zu einem Angriff kam, rechnete er momentan eher mit einem Angriff aus kurzer Distanz. Da wäre ein Bogen zwecklos. Erchirion horchte in die Stille des Waldes hinein. Doch außer ein paar Vögeln, welche vor sich hinsangen, konnte er nicht das geringste hören.
Kurz zuckte Erchirion zusammen, als Sarion neben ihm auftauchte. Der Prinz hielt sich schnell den Finger an den Mund. Noch mussten sie schweigen, bis sie wussten, ob hier nicht noch mehr Feinde waren. Auch Sarion hatte den Ork mittlerweile entdeckt und sah fragend auf ihn. In der Nähe konnte der Prinz nun auch Arcuen erkennen, welcher in Deckung blieb.
Leise rutsche Erchirion zu Sarion, um sich mit ihm wenigstens im Flüsterton verständigen zu können. „Ich habe ihn nicht getötet“, meinte er leise, als er diesen erreicht hatte. „Er lag hier schon tot. Das sind eindeutig die Spuren eines Kampfes. Wir wissen nicht, ob hier noch mehr Orks in der Nähe sind. Aber wenn wir uns den Kadaver näher betrachten, können wir vielleicht erkennen, wie lange er schon hier liegt.“ Erchirion sah seinen Kameraden an, um zu erkennen, ob dieser Einverstanden war. Arcuen würde ihnen mit seinem Bogen Deckung geben können, während sie den Leichnam untersuchten.
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Erchirion gab ihm zu verstehen, dass er leise sein sollte. ›Ich hätte jetzt auch bestimmt hier herum geschrien...‹, dachte Sarion belustigt und wartete, bis der Prinz zu ihm geschlichen war. Dieser gab ihm dann auch flüsternd die Auskunft, die der ältere Waldläufer erwartet hatte. ER hatte den Ork nicht getötet... aber was war es dann gewesen?
Angeekelt verzog er das Gesicht als der Prinz vorschlug, sie sollten doch den Ork untersuchen. Die Kreatur stand ja schon bis hierher... Sarion war wirklich nicht sonderlich erpicht darauf, sie auch noch anzufassen. Aber was sein musste, musste wohl sein. Ohne ein Wort zu sagen nickte er und gab Arcuen, der in einiger Entfernung im Gebüsch auf der Lauer lag, zu verstehen, dass er dort bleiben sollte, während sie sich dem Kadaver nähern würden. Dann schlich er möglichst leise zu dem Toten hinüber und musterte diesen. Die Verletzungen sahen wirklich nach einem Kampf aus. Sarion blickte sich nach den Waffen des Ork um, konnte sie jedoch nicht erblicken. Vermutlich hatte der Sieger sie an sich genommen.
Erchirion bemerkte Sarions angeekelten Gesichtsausdruck, nachdem er seinen Vorschlag unterbreitet hatte. Der Prinz konnte sich darauf hin ein Grinsen nicht verkneifen. Natürlich konnte man sich etwas schöneres vorstellen als einen Ork-Kadaver zu untersuchen. Die Bestien stanken ja schon im lebenden zustand über aller Maßen. Aber da mussten sie nun durch.
Vorsichtig schlichen die beiden Waldläufer heran, während ihnen Arcuen vom Gebüsch aus Deckung gab. Ja, hier hatte sich eindeutig ein Kampf zugetragen. Auch die Umgebung zeugte davon. "Der ist noch nicht lange tot", meinte Erchirion im Flüsterton. "Vielleicht einen, höchstens zwei Tage." Dann inspizierte er die Spuren um das Ork-Opfer. "Sieh dir das an. Er war nicht alleine." Erchirion deutete auf einige Fußabdrücke im Boden. Das Spurenlesen gehörte zu einer der wichtigsten Ausbildung der Waldläufer.
"Es waren mindestens fünf Orks. Und hier schau ... das sind Stiefelspuren. Sie gehören zu unseren Männern." Erchirion überlegte, wer hier in den letzten Tagen vorbei gekommen sein konnte. "Vor zwei Tagen sind Serepin, Costan und Septus in Richtung Wegscheide aufgebrochen. Sie könnten hier entlang gekommen sein." Aber wenn es zu einem Kampf gekommen war, wären sie anschließend sicher umgekehrt um Meldung zu machen. Außer sie hatten es nicht überlebt ...
"Wir müssen die nahe Umgebung nach weiteren Spuren absuchen!" meinte Erchirion. Es war unwahrscheinlich, dass sich hier jetzt noch weitere Orks aufhielten, wo der Kadaver hier sicher schon ein, zwei Tag lang lag. "Lass uns uns aufteilen, dann können wir einen größeren Radius auskundschaften und uns dann wieder hier treffen", schlug Erchirion vor.
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Aufmerksam folgte Arcuen Sarion im Unterholz, den Pfeil nach wie vor auf der Sehne. Obwohl Erchirions Warnung natürlich Gefahr beudeten konnte, mochte der junge Waldläufer kaum erwarten, was es damit auf sich hatte.
Bald erblickte er seinen Kameraden, der sich ebenfalls verborgen hielt und anschließend auch die Orkleiche, die ein Stück abseits des Weges lag. ›Verdammt, was hat das nur zu bedeuten? Soweit dringt dieser Abschaum doch selten nach Ithilien vor!‹, dachte er erschüttert, zwang sich jedoch, den Blick abzuwenden und die Umgebung im Blick zu behalten.
Sarion gesellte sich zu dem Prinzen und sich wechselten flüsternd ein paar Worte, die Arcuen aus dieser Entfernung nicht zu verstehen vermochte. Dann gab der Ältere ihm ein Zeichen, weiterhin versteckt zu bleiben, und beide gingen hinüber zu dem Toten, um ihn genauer unter die Lupe zu nehmen.
›Von wegen Routine-Einsatz! ...Hoffentlich können sie irgendwas entdecken, das uns weiterhilft - häufig sind Orks ja recht schlampig im Verwischen ihrer Spuren...‹, dachte und ließ seinen Blick schweifen, völlig unbeweglich hockend und somit für ein ungeübtes Auge zwischen den dichten Sträuchern kaum auszumachen.
Sarion ging neben dem toten Ork in die Hocke und zog mit spitzen Fingern an dessen Armen und Beinen. Sie waren vollkommen starr und Sarion hob bei jedem Zug den gesamten Kadaver mit an. »Viel länger als einen Tag ist er nicht tot...«, bestätigte er leise Erchirions Schätzung, denn ansonsten wäre die Totenstarre nicht mehr so vollständig ausgeprägt. Der Waldläufer widmete sich nun einer Stichverletzung, welche von schwarzem Blut verkrustet war, das ziemlich abscheulich stank!
Der Prinz sah sich in der Zwischenzeit im nähren Umkreis um und Sarion blickte auf, als er auf eine Fußspur deutete. »Die Verletzung sieht auch nach einer glatten Klinge aus, also eher wie von einer unserer Waffen«, murmelte er und befand, dass er genug über den Toten herausgefunden hatte. Mit verzogenem Gesicht wischte er sich die Finger am feuchten - und ziemlich kalten - Moos des Waldbodens ab und erhob sich dann langsam. Er wollte sich nicht vorstellen, was fünf Orks mit drei Waldläufern anstellen konnten, wenn man nur eine dieser Kreaturen tot fand!
Zustimmend nickte er, als Erchirion vorschlug, die Gegend weiter zu durchforsten und winkte Arcuen zu, welcher immer noch verborgen in den Büschen lag. Sie mussten auch ihn in den Plan einweihen und die Entscheidung letztendlich zusammen treffen. »Weißt du, wann die drei hätten zurück sein sollen?«, fragte er noch an Erchirion gewandt, während sie auf Arcuen warteten.
Sarion bestätigte Erchirions Vermutung, dass dieser Ork von einem Waldläufer aus ihren Reihen niedergestreckt wurde. Nachdem auch der Prinz sich seine Hände gesäubert und Sarion Arcuen heran gewunken hatte, fragte der Kamerad nach der Rückkehr der drei ausgesandten Waldläufer. „Nicht vor Übermorgen. Von daher sind sie noch nicht überfällig. Die drei hätten eine Chance gegen fünf Orks, wenn es ein Angriff aus der Distanz wäre. Bei einem Nahangriff müssen sie wirklich Glück und Geschick haben. Und der größte Nachteil an der Sache ist der, dass man so nah an Henneth Annun keine Orks vermutet. Sie konnten als überrascht worden sein.“
Erchirion grübelte. Was wenn ihnen diese Orks, es hätten auch mehr als fünf gewesen sein können, über den Weg gelaufen wären, während sie fröhlich vor sich hinsangen und nicht wachsam waren. Zumindest war wenigstens einer gescheit gewesen und vorn weg gelaufen um den Weg zu sichern, damit sich die anderen ihre Zeit mit Flötenspiel und Gesang vertreiben konnten.
Arcuen hatte sie nun endlich erreicht und sah sich selbst den Körper an. „Wir meinten gerade, dass wir die Gegend auskundschaften müssen. Dieser Ork hat gegen Waldläufer gekämpft. Vielleicht finden wir in der Nähe noch weitere hinweise. Teilen wir uns also auf.“
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Auf Sarions Zeichen hin verließ Arcuen seinen Deckung und gesellte sich zu seinen Kameraden. Er verzog das Gesicht, als er das tote Ungetüm aus der Nähe betrachtete, sagte aber nichts. Da er die vorigen Gespräche der beiden nicht mitbekommen hatte und ihm Erchirions Informationen nicht reichten, fragte er: »Könnt ihr ungefähr sagen, wie viele es waren? Und vorallem, was mit unseren Kameraden geschehen ist - Es ist doch anzunehmen, dass derjenige, der diesen Ork tötete, nicht allein war.« Man wiederholte kurz, was die beiden zuvor besprochen hatten.
»Ob es wirklich sinnvoll ist, wenn wir uns aufteilen? Wahrscheinlich befindet sich niemand mehr in der unmittelbaren Nähe... Andererseits müssen wir ja irgendwo beginnen, vielleicht finden wir tatsächlich etwas.«, sagte der Waldläufer und streifte erneut Kapuze und Mundschutz über, Bogen und Pfeil hatte er gar nicht erst aus der Hand gelegt.
»Treffen wir uns wieder hier, wenn niemand etwas entdeckt?«
Sarion lauschte still dem Bericht des Prinzen und nickte hin und wieder an einer Stelle, während er ab und an einen prüfenden Blick auf die Spuren warf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Orks einige von unseren Soldaten verschleppen würden... meint ihr nicht, sie würden einfach kurzen Prozess mit ihnen machen?«, fragte er dann seine beiden Kameraden. Der Kampfplatz hier sah nicht danach aus, als wäre einer der Waldläufer verletzt oder gar getötet worden. Es gab zwar immer mal wieder Gerüchte, dass Orks Menschen fraßen, doch Sarion konnte sich dies nicht vorstellen. Und außerdem, wenn sie sie nicht aßen, was wollten sie dann mit Gefangenen? Sarion hatte noch nie etwas von einem Ork gehört, der Lösegeld forderte!
Arcuen warf ein, dass er es nicht sinnvoll fand, wenn sie sich aufteilten. Sarion stimmte ihm in dem Punkt zu, dass einer alleine niemals eine Chance gegen die verbliebenen Orks hätte und es deswegen gefährlich sein könnte. Doch der junge Mann sagte selbst, dass er niemanden mehr in der Nähe vermutete. »Ich denke, wir können ungefährdet allein durch den Wald streifen, schließlich sind die anderen jeweils nur in geringer Entfernung. Jedoch ist es für uns wohl einerseits nötig, die Richtung herauszufinden, in die die Orks gezogen sind und andererseits sicher zu gehen, dass unsere Männer mit ihnen gegangen sind«, teilte er seine Meinung mit und stimmte so Erchirion zu.
Nachdem die Kameraden sowohl ihre Bedenken, als auch ihre Zustimmung geäußert hatten, wurde also beschlossen, dass man sich doch aufteilte. "Ja, treffen wir und wieder hier, falls wir nichts auffälliges entdecken. Ich würde sagen wir nehmen einen Umkreis von fünfhundert Metern. Viel Erfolg! Lasst uns hoffen, dass wir keine schlechten Entdeckungen machen."
Alleine unterwegs
Damit trennten sich die drei Waldläufer und Erchirion zog sich seine Kapuze über den Kopf. Er vermied es auffällig des Weges entlang zu laufen, sondern suchte noch immer den Schutz der Bäume und Sträucher. Man konnte einfach nicht wissen, ob nicht doch noch irgendwie Gefahr drohte. Es war überhaupt merkwürdig, dass sich diese Ork-Brut bis hierher vorwagte.
Erchirion war mehrere hundert Meter gelaufen, als er doch wieder auf Spuren stoß. Kampfspuren, nahe einer Klippe, welche etwa 100 Meter in die Tiefe ging. Es waren die Fußabdrücke von mehreren Orks und von mehreren Waldläufern. Auch angetrocknetes Blut bedeckte den Boden, so wie Lederfetzen und abgebrochene Pfeile. Sowohl die der Orks mit Widerhaken, als auch von den Waldläufern aus Ithilien.
Der Prinz sah sich alles ganz genau an und erkannte dann, dass mehrere Schuhabdrücke bis an den Rand der Klippe führten. Die eines Waldläufers ebenfalls, doch diese hörten dort am Rande auf und führten nicht mehr zurück. Vorsichtig wagte sich Erchirion zum Klippenrand vor, legte sich dann auf dem Boden, da er befürchtete sonst das Gleichgewicht zu verlieren und spähte hinunter.
Erchirion stockte der Atem. Auf einem Felsvorsprung, etwa zehn bis fünfzehn Meter unter ihm lag der Körper eines Waldläufers. Der Fuß sah ungesund verdreht aus und ansonsten regte sich vorerst nichts. "Costan!" rief Erchirion nach unten. Verdammt! War er tot? Konnte man einen solchen Sturz, nachdem man schon gegen Orks gekämpft hatte, überhaupt überleben? Zumindest war er auf einen Felsvorsprung gestürzt und nicht komplett in die Tiefe. "Costan!" rief Erchirion erneut und da plötzlich bewegte sich die Hand des jungen Mannes, wenn auch nur leicht. Er lebt! schoss es Erchirion durch den Kopf. Doch musste er schon länger als einen Tag dort unten liegen, den Spuren nach zu urteilen.
Erchirion stieß diesmal keinen Warnruf, sondern einen Lockruf aus und hoffte, dass diesen die Kameraden auch noch in weiter Entfernung vernehmen konnten. Sonst würde er zurückgehen und sie holen müssen. Eines war jedoch klar: Sie konnten den Kameraden nicht hier zurücklassen. So auswegslos die Situation momentan erscheinen mochte.
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