Auf dem selben Weg, den sie jetzt nutzten, waren Bardos, Arvellon und Earendil am Vortag gekommen. Da hatte Bardos nicht damit gerechnet, dass er seine Schwester so schnell finden und befreien konnte. Hätte er gewusst, was für ein Feigling dieser Bauer war, hätte er Brunderei schon am selben Abend befreit. Doch er hatte auf Arvellon gehört.
Unwillkürlich wanderten seine Gedanken zu seinen bisherigen Begleitern. Eigentlich hatte er ja herausfinden wollen, was Arvellon im Schilde führte. Doch seit der Elb bei ihnen war, war der Mann ungewöhnlich vorsichtig geworden.
›Nun‹, dachte Bardos. ›Es wird schon nicht so wichtig gewesen sein …‹ Damit schob er die Gedanken an Arvellon zur Seite und dachte nun an bedeutend schönere Dinge: ›Miléndra!‹ Ihre dunklen Augen. Ihre weiche, warme Haut. Ihre zarten Lippen … Bardos Gedanken schweiften immermehr ab. Doch fiel das den Frauen kaum auf, denn er ritt einige Meter vor ihnen und sie waren in ein Gespräch vertieft.
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Nur wer seine Rechnungen nicht bezahlt, darf hoffen, im Gedächtnis der Kaufleute weiterzuleben. (Oscar Wilde)
Adlinn nickte, als Ellena die Kekse ablehnte. ›Na ja, später vielleicht. Vielleicht mag sie lieber herzhafte Sachen?‹
Sie lenkte die Pferde mit aus dem Handgelenk, als diese nach links zogen. Dann nahm sie sich selbst einen Keks, von dem sie genüsslich ein Stück abbiss.
»Oh ja«, antwortete sie, »das ist Ban, mein Sohn. Er ist fast ein Jahr alt. Möchtest du ihn mal halten? Wobei, mir wäre es ja lieber, du hälst ihn, wenn er schreit, statt das ich ihn dann halten muss.« Sie lachte und ihr Zopf rutschte nach vorne. Nachlässig schob sie ihn wieder zurück und musterte Ellena wieder. So richtig gesprächig war sie ja nicht, dass konnte Adlinn nach der bisherigen Situation verstehen. Adlinn selbst viel das Plaudern ohne Sinn und Verstand jedoch auch schwer, deshalb musste sie sich anstrengen, dass keine peinliche Pause entstand.
Sie begann, Schmankerl aus Bans Kindheit zu erzählen und flocht hin und wieder die Hunde mit ein, während sie diese während der Fahrt beobachtete. Gul und Rugul hechteten, voller Freude an der Fahrt, um den Wagen herum und schossen gelegentlich ins Gestrüpp davon, wo sie kleines Getier aufstöberten. Immer wieder kontrollierten die Hunde außerdem, dass sich der Wagen und Bardos nicht zu weit von einander entfernten, ein Verhalten, dass ihnen wohl vom Hüten im Blut lag.
Dann trat ein Schweigen ein zwischen ihr und Ellena, aber es war erstaunlicherweise nicht so unangenehm, wie Adlinn vermutet hatte. Sie beobachtete derweil Bardos, der auf seinem Pferd saß, als sei er es gewohnt. Dass er ihr gut gefiel, hatte Adlinn längst bemerkt, aber sie hatte nicht vor, sich zu vergucken. ›Trotzdem‹, dachte sie, ›werde ich ihm nachher einen Keks anbieten. Das ist nur höflich.‹
Die fremde Frau stellte den Kleinen nun als ihren Sohn Ban vor. Als sie Ellena fragte, ob sie ihn mal halten möchte, schüttelte diese schnell den Kopf. „Nein, nein ich will ... ich kann. Ich meine ich mag nicht.“ Schnell sah sie weg und auf die Bäume, welche an ihnen vorüber zogen. Es war wirklich nicht böse gemeint, aber Ellena war gerade nicht danach ein fremdes Kind zu halten. Für Adlinn sah es wahrscheinlich so aus als hätte Ellena Angst davor. Zu einem gewissen Teil traf das auch zu. Aber die Erinnerungen, was dies mit sich bringen würde, waren noch immer vorhanden. Sie hatte es noch nicht überwunden. Zwei Jahre wäre er nun alt, ihr kleiner Sohn. Doch sein Leichnam lag irgendwo bei Minas Tirith begraben. Und mit ihm ein großer Teil von Ellenas Herzen.
Nun begann Adlinn einen Schwank aus vergangener Zeit zu erzählen. Doch die etwa sechs Jahre jüngere Frau neben ihr hörte nur halb hin. Natürlich war es unhöflich, aber zumindest unterbrach sie Adlinn nicht. Ellena selbst hatte damit zu kämpfen ihren noch immer krampfenden Magen zu beruhigen, indem sie gleichmäßig atmete und nicht auf das Geruckel unter ihr achtete.
Bardos ritt ein Stück voraus und die Frauen sahen nur seinen Rücken und das Hinterteil des Pferdes. Die Hunde schienen auch ihren Spaß an der Fahrt zu haben. Ellena betete innerlich, dass sie schnell vorbei sein möge. Doch Minas Tirith war ein gutes Stück weg und bei dem jetzigen Tempo würden sie schon eine Weile brauchen.
In Bardos Gedanken war er schon längst wieder in Rondaria, an dem kleinen See. Er und Miléndra langen im Gras. Er erzählte ihr von seinem Leben, seiner Geschichte als Soldat und wie er von Denethor verjagt worden war. Kurzum, er erzählte ihr sein ganzes Leben, während sie aufmerksam zuhörte. Ihre schönen braunen Augen … Bald schon vergaß er seinen Lebenslauf und begann das Mädchen zu liebkosen, was sie mit erstaunten Augen zuließ. Sie entschuldigte sich und meinte, dass sie seine Zuneigung nicht wert sei … Doch Bardos überzeugte sie vom Gegenteil.
»Miléndra«, seufzte Bardos sehnsuchtsvoll. Plötzlich streifte ihn ein Ast durch die Haare, denn er hatte nicht aufgepasst. Auf diese unsanfte Art wurde er wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt. Mit der linken Hand fuhr sich Bardos durch das schwarze, lockige Haar.
Dann drehte er sich zu den Frauen um, denn er wurde sich bewusst, dass er ja nun auf jemanden aufzupassen hatte.
Sein Blick traf sofort auf Adlinns grüne Augen, die ihn aufmerksam, jedoch mit einem Lächeln musterten. Bardos erwiderte das Lächeln. Ellena hingegen sah recht blass aus und kein Lächeln war auf ihrem Gesicht zu sehen. Deshalb ließ sich Bardos zurückfallen und ritt nun neben seiner Schwester.
»Wie geht es dir, Br… Ellena?«, fragte Bardos besorgt. Sein Blick wanderte zu Adlinn, in der Hoffnung, dass sie mehr wusste.
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Nur wer seine Rechnungen nicht bezahlt, darf hoffen, im Gedächtnis der Kaufleute weiterzuleben. (Oscar Wilde)
Adlinn musterte Ellena nun auch erneut und erwiderte dann Bardos Blick. Sie kniff unschlüssig die Lippen aufeinander.
»Ich habe die Erfahrung gemacht, dass trockenes Brot in kleinen Stücken zu kauen gut gegen die Übelkeit hilft. Ich habe welches im Beutel im Wagen hinten«, erklärte sie Ellena zögernd, da sie annahm, dass diese mit der Übelkeit zu kämpfen hatte. »Willst du dich vielleicht lieber hinten auf den Wagen legen? Das könnte auch helfen.«
In diesem Moment begann Ban zu krähen, und lenkte sie ab. Adlinn lockerte seinen Gurt, doch statt sich wieder zu beruhigen, überzog Bans Gesicht eine leuchtend rote Farbe und er verzog wütend sein Gesicht, die Fäuste und Füße wild in die Luft gehoben.
»Ich fürchte, er hat Durst«, erklärte Adlinn resigniert. »Entweder, wir machen eine Pause, oder Ellena kann kurz die Zügel halten?« Sie musterte Ellena nochmal, die immer noch recht blass war. »Vielleicht sollten wir kurz Pause machen. Es dauert auch nicht lange.«
›Wobei‹, kam ihr der Gedanke,› die Straße verläuft ruhig und die Pferde laufen entspannt, das Zügelführen ist gerade nicht schwierig. Vielleicht würde es Ellena von der Übelkeit ablenken, wenn sie etwas zu tun bekäme.‹ Sie hätte ihr wirklich gerne geholfen und wartete auf Ellenas Antwort.
Ellena wurde ganz aus ihren Gedanken gerissen, als sie Bardos Stimme hörte. „Was?“ fragte die junge Frau. „Oh. Mh. Wird schon ...“ Was hätte sie sonst auch sagen sollen. Er sollte sich nicht Sorgen um sie machen müssen. Bardos hatte sie gerettet und sie sollte sich doch zumindest ein wenig dankbar zeigen. Auch wenn ihr dies gerade noch sehr schwer fiel.
Natürlich war auch Adlinn aufgefallen, dass es dem Mädchen nicht sonderlich gut ging und sie gab ihr sogleich ein paar sinnvolle Ratschläge. Doch dann fing der kleine Junge an zu Schreien und sofort war die Aufmerksamkeit der Fremden bei ihrem Kind.
„Wir müssen nicht unbedingt eine Pause machen“, meinte Ellena. Schließlich waren sie gerade erst seit kurzer Zeit unterwegs. „Also nur, wenn du hier auf dem Kutschbock stillen kannst.“ Sie hielt Adlinn ihre Hand hin, um die Zügel entgegen zu nehmen. Ablenkung war das was sie jetzt wirklich brauchte. Solange die Pferde nicht durchgingen, würde sie das schon schaffen. Dass Ellena noch nie eine Kutsche gelenkt hatte, sagte sie lieber nicht.
„Wenn ich dann doch ein wenig von dem Brot ... wenn du fertig bist. Ich werde es auch bezahlen oder abarbeiten oder irgendwie“, sprach Ellena leise. Auch wenn ich kein Geld habe ... dabei vergaß Ellena, dass sie aus einer eigentlich reichen Familie stammte. Nur seit einigen Jahren fühlte sie sich arm und dies nicht nur wegen Mangel an Geld.
Die Frauen einigten darauf, dass sie weiter fuhren. Bardos war das im Grunde genommen egal, aber lange waren sie noch nicht unterwegs. Mit dem kleinen Ban würden sie einige Zeit länger nach Minas Tirith brauchen.
Über Ellenas Worte über das Abarbeiten des alten Brotes von Adlinn schüttelte Bardos nur den Kopf. Dass die Frauen auch immer irgendwelche Probleme im Geld ausgeben sahen.
»Ich komme für alle Kosten auf«, sagte Bardos zu Adlinn. Dann wandte er sich an seine Schwester: »Glaub ja nicht, dass ich unser ganzes Erbe schon verschleudert habe!«
Danach nickte er den beiden Frauen zu und ritt wieder ein Stück voraus. Er wollte Adlinn nicht beim Stillen stören.
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Bardos' Worte weckten Interesse in Adlinn und ihre Augenbrauen schossen in die Höhe. ›Erbe? Meine Güte‹, dachte sie in Bezug auf Ellena. ›Dass Freud und Leid so nahe beieinander liegen im Leben.‹
Sie selbst hatte selten mehr besessen, als für ein gutes bäuerliches Leben notwendig war, ihre Kleidung war aus Wolle oder Leinen, meist selbstgewebt oder gestrickt. Aber sie hatte nie das Gefühl gehabt, etwas zu vermissen, und ihr verstorbener Mann hatte auch nicht mehr gehabt. ›Eher weniger‹, dachte sie, und erinnerte sich an Monate, wo sie bis in die Nacht gesponnen und gewebt hatte, um ihnen Essen zu kaufen, weil die Ernte nicht angegangen war.
Sie löste mit der Hand den Knoten, der Ban im Körbchen hielt und reichte Ellena die Zügel rüber.» Das Brot hole ich lieber jetzt gleich«, lächelte sie Ellena an, »bei dem Zwerglein hier weiß man nie, wie lange Stillen dauert. «
Halb im Stehen beugte sie sich über die Lehne und griff nach einem Sack, der auf der Ladefläche lag. Nach ein bisschen Suchen hielt sie das Brot in der Hand, setzte sich wieder und brach es in zwei Stücke, wovon sie eines neben Ellena legte. Es wackelte zwar ein wenig, fiel aber nicht herunter. »Soweit ist es in Gondor noch nicht gekommen, dass du für ein trockenes Brot zahlen musst, «meinte sie zu ihr. »Aber ich verstehe, worauf du hinauswillst. Ich bin sicher, wir können uns einigen, falls Kosten anfallen.« Das andere legte sie neben sich, um später davon zu essen.
Dann knotete sie ein Schultertuch ab, das sommerlich gestrickt war und viele kleine Löchlein besaß. Bans Geschrei war mittlerweile sirenenartig geworden, und Adlinn beeilte sich, ihn an die Brust zu legen, während sie mit dem anderen Arm schamhaftdas Tuch über die bloße Brust und Ban breitete. Schlagartig verstummte Bans Gebrüll, und Adlinn strich ihm über die Wange, während er hungrig trank.
»Dass du es immer so eilig hast, mein Kind«, murmelte sie. »Man könnte meinen, du fällst beim Warten von der einen auf die andere Sekunde vom Fleisch.«
Dankbar nahm Ellena das Brot, welches Adlinn neben sie legte sofort in die Hand und biss einen kleinen Bissen davon ab. Dann nahm sie sofort die Zügel wieder in beide Hände, während die junge Frau langsam kaute. Sie wollte auf keinen Fall, dass die Pferde irgendwelchen Unfug trieben und sie noch Schuld an einem Unfall war.
Mit jedem Bissen merkte Ellena, wie es ihr besser ging. Sie wagte einen Blick zu Adlinn, welche nun dem Kleinen die Brust gab. Zum Glück hatte damit auch das Gekreische ein Ende. Das war zuvor wirklich ohrenbetäubend gewesen und Ellena hatte sich schon gefragt, ob dem Kleinen nicht irgendetwas fehlte. Außer Nahrung ...
„Tut ... tut das weh? Ich meine, wenn er an deiner Brust saugt“, fragte Ellena leise und beobachtete aus den Augenwinkeln noch immer die junge Mutter beim Stillen. Sie war sich unsicher in allen Dingen, was irgendwie mit Kindern zu tun hatte. Nach dem Tod ihres Babys hatte sie das alles weit beseite geschoben und konnte so keine Erfahrungen sammeln.
»Mmh?« Adlinn sah auf und blickte zu Ellena hinüber. Sie kaute langsam auf ihrem Brot und hatte schon wieder ein wenig Farbe im Gesicht. Adlinn war erfreut, dass ihr Hinweis mit dem Brot geholfen hatte. »Es tut nicht weh,« antwortete sie. »Zuerst zieht es ein wenig, aber nicht doll, und dann ist es auch gut, weil der Druck weggeht. Die Brust ist ja schon prall vorher und drückt ein wenig. Aber wenn die Milch erstmal läuft, muss der Kleine auch garnicht mehr saugen, sondern nur noch schlucken, siehst du?«
Sie zog das Tuch ein wenig zur Seite, so dass Ellena den trinkenden Säugling sehen konnte. Sanft löste sie den Bans Mund von der Brustwarze ab und der Strahl Milch, der auch ohne Saugen weiterfloss, war gut zu sehen. Dann zog sie Ban wieder an sich und schob das Tuch zurecht.
»Aber manchmal - das sind dann eher unschöne Tage - ist die Brustwarze rissig und das ist schon schmerzhaft. Meiner Erfahrung nach hilft Kamille als Salbe oder als aufgelegter Brei dann aber recht schnell.« Sie sah auf Ellenas Bauch. »Brauchst dich aber nicht zu fürchten, dass du was falsch machst, falls es das ist, dass dich besorgt. Ich dachte das auch immer, aber es kommt einem dann alles einfach vor, wenn das Kind da ist. Es passt irgendwie gut zusammen, Mutter und Kind.«
Mit einer geschickten Bewegung löste sie den Säugling ab und wechselte die Brust.
Schweigend hörte sich Ellena die Erklärung der Älteren an und sah dann auch, was diese mit dem Milchfluss meinte. Irgendwie war das ja schon leicht eklig und Ellena fragte sich, ob der Ekel vergehen würde, wenn sie erstmal selbst stillen musste. „Und wie lange stillst du ihn?“ fragte sie nun. Ban war nun wohl etwa ein Jahr alt und würde sicher schon bald feste Nahrung zu sich nehmen können.
Ellena nahm einen erneuten Bissen von ihrem Brot und lutschte diesen aber mehr, als dass sie wirklich darauf kaute. Das machte das Brot süß und noch schmackhafter. Die letzten Monate hatte sie immer sehr schnell essen müssen, damit sie zeitig an die Arbeit kam. „Macht es deinem Mann nichts aus, wenn du ganz alleine nach Minas Tirith fährst? Oder ist er da schon?“ Nun, da es Ellena zumindest körperlich ein wenig besser ging, war sie auch nicht mehr ganz so schweigsam. Adlinn war sehr freundlich zu ihr und so etwas hatte Ellena schon sehr, sehr lange nicht mehr zu spüren bekommen. „Aber ich denke wir fahren gar nicht in die weiße Stadt“, fügte Ellena schließlich noch hinzu.
Adlinn wurde schweigsam, als Ellena sie auf ihren Mann ansprach. Zwar gefielen ihr hin und wieder mal ein paar besondere Männer, aber ganz hatte sie den Tod ihres Mannes, der jetzt eineinhalb Jahre zurücklag, noch nicht überwunden. Aber Ellen konnte das ja nicht wissen, und so konnte sie ihr die Frage ja wohl kaum übel nehmen. Sicher musste es ihr seltsam erscheinen, dass Adlinn mit Ban alleine unterwegs war.
»Ich werde Ban noch etwa ein Jahr stillen,« antwortete sie zuerst ausweichend. »Das ist mir von meinen Verwandten empfohlen worden und ich glaube fest, dass es Ban guttut. Aber schon jetzt interessiert er sich auch für richtiges Essen,« ergänzte sie.» Obstbrei oder eingeweichte Hirse mag er schon ganz gerne, obwohl er mehr Schweinerei macht, als dass er isst.«
Sie machte eine Pause und hob Ban an die Schulter, während sie ihm sanft auf den Rücken klopfte.
»Mein Mann ist noch vor Bans Geburt gestorben,« fuhr sie dann leise fort. »Er war mit meinem Vater und meinem Bruder auf dem Feld, und sie haben die Bäume am Rand geringelt, um den Platz fürs nächste Jahr zum Pflanzen nutzen zu können. Der Baum, den mein Mann sich ausgesucht hatte, war wohl schon morsch, und es ist ein großer Ast abgebrochen und hat ihn unter sich festgequetscht.«
Sie schluckte krampfhaft, darüber zu sprechen war nicht einfach. »Mein Vater sagt, es sei schnell gegangen und er hat nichts gefühlt, weil der Ast auch den Kopf getroffen hatte.«
Schweigsam schaukelte sie Ban und sah Bardos hinterher, der ihrem Mann doch sehr unähnlich war.
»Aber wir schaffen das schon allein, Ban und ich. Ein Kind gibt einem Kraft, auch wenn man keinen Vater dazu hat.«
Dann wurde ihr bewusst, was Ellena noch gesagt hatt: »Wie meinst du das, ihr fahrt wir fahren nicht in die weiße Stadt? Begleitet ihr mich nicht bis dorthin? Es ist nämlich mein Reiseziel.«
So eine lange Zeit stillen ... das kam Ellena wie eine halbe Ewigkeit vor. Das Kind konnte doch bald feste Nahrung essen, warum sich dann noch weiter mit so etwas beschäftigen? Die junge Frau verstand einfach nicht, dass die Muttermilch für Babys wichtig war und es auch eine feste Beziehung zwischen Mutter und Kind aufbaute. Aber es hatte noch nie wirklich jemand mit Ellena darüber gesprochen. Selbst vor der Geburt des ersten Kindes nicht. Da ließ man alles auf sich zukommen. Und Ellena lernte nun hier so etwas wie das einmal eins der Fürsorge.
Es musste sich ohnehin erstmal zeigen, wie alles weiterging. Momentan hatte sie keine Gefühle für diesen kleinen Menschen, der in ihr heran wuchs. Auch wenn das Kind natürlich nichts dafür konnte, aber er war mit Schmerz und Demütigung gezeugt. Und selbst wenn Adlinn meinte, dass es irgendwie alles passte, Mutter und Kind, und man auch ohne Vater klarkommt. Das Baby würde sie jede Sekunde ihres Lebens an Undar erinnern und an die schreckliche Zeit bei ihm.
„Das mit deinem Mann ... das tut mir leid!“ meinte Ellena leise. „Ich habe es nicht gewusst. Es ist immer schlimm einen geliebten Menschen zu verlieren. Tut mir leid, wenn ich dich nun an ihn erinnert habe.“ Ellena meinte dies durchaus ehrlich. Sie war auch niemand der gerne über den Tod sprach. Sei es der Tod ihrer Eltern oder der Tod ihres Babys, welchen sie nicht überwinden konnte.
Etwas irritiert sah Ellena nun die Ältere an, welche ihr Baby gerade über der Schulter liegen hatte. „Wie? Nein, also ich weiß nicht wo Bardos hin möchte. Aber nach Minas Tirith fahren wir nicht.“ Ellena war wirklich verwirrt. Warum nahm Bardos eine Frau mit, welche in die weiße Stadt wollte. Er konnte doch Adlinn und Ban nicht irgendwo mit dem ganzen Habe aussetzen. Nein, so etwas würde Bardos nie tun. Aber wie gut kannte sie ihren Bruder eigentlich noch?
›Mmh,‹ grübelte Adlinn und blickte auf Bardos' Rücken, der vor ihnen ritt. »Ich dachte sicher, dass wir nach Minas Tirith fahren wollen - vielleicht habe ich deinen Bruder auch falsch verstanden, es war etwas hektisch vorhin. Ich muss auf jeden Fall dorthin, nur dort ist es momentan sicher! Außerdem habe ich dort eine Tante, die momentan krank ist und die mich als Hilfe im Laden braucht.« Sie zog die Augenbrauen hoch und schwieg.
Falls Bardos wirklich nicht in die weiße Stadt wollte, würde es ein Problem mit dem Wagen geben. Sie konnte unmöglich den ganzen Kram irgendwo abladen und einen neuen Wagen kaufen, dazu reichte ihr Geld hinten und vorne nicht. Sie ärgerte sich, dass sie mit dem Fremden gefahren war, dass sie ihm so schnell vertraut hatte. Jetzt gab es schon Schwierigkeiten, sie hätte es wissen sollen.
Ban hatte den Daumen in den Mund geschoben und blinzelte schläfrig. Adlinn legte ihn wieder in sein Körbchen zurück und blickte Ellena auffordernd an: »Reichst du mir die Zügel wieder?«
Ellena gab sie ihr, und Adlinn ließ sie Zügel auf den Hintern der Pferde klatschen. Diese beschleunigten ein wenig, so dass sie näher an das Pferd vor sich herankamen. Als sie seitlich aufschlossen, bremste Adlinn den Wagen wieder ein wenig.
»Bardos, sagt mir,« rief sie den Mann an,» wo genau ist das Ziel unserer Reise?«
Bardos gab sich der Phantasie hin, dass auch Miléndra bald ein kleines Kind auf dem Schoß hätte, dass ihm selbst verblüffend ähnlich sah. Auf ihrem Gesicht wäre ein Strahlen und sie würde ihren kleinen Sohn stillen, während er ihnen glücklich dabei zusehen würde.
Plötzlich kamen die beiden Frauen heran und rissen den jungen Mann unsanft aus seinen Gedanken. Unruhig schaute er sich um, doch die Straße war gähnend leer.
»Ist etwas passiert?«, fragte er besorgt. »Glaubt ihr, wir werden verfolgt?«
Bardos hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sich seinen Träumereien hingegeben hatte, anstatt auf den Weg zu achten. Aber die junge Mutter und die angehende Mutter brachten ihn auf seltsame Gedanken.
Adlinn wiederholte ihre Frage und Bardos erwiderte abwesend: »Nach Minas Tirith! Ich dachte, das wäre auch Euer Ziel!«
Bardos hatte das Pferd gewendet und blickte während er sprach nicht Adlinn an, sondern er musterte aufmerksam den Weg. Ihm war nicht bewusst, dass die Frage des Weges der einzige Grund für die Unruhe der beiden Frauen war.
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Etwas verunsichert sah Ellena die fremde Frau neben sich an, welche nun das Kind zurück in seinen Korb bettete. Der Kleine schien nun nach der Mahlzeit richtig schläfrig und würde sicher bald eingeschlafen sein. Schweigend gab Ellena die Zügel wieder zurück und merkte wie der Wagen beschleunigte um zu Bardos aufzuholen.
Ellenas Bruder schien gerade in einer ganz anderen Welt zu sein. Doch als er die beiden jungen Frauen bemerkte, wurde der Träumer doch endlich wieder aufmerksamkeit und erkundigte sich sofort. „Alles in Ordnung“, murmelte Ellena leicht genervt.
Natürlich wollte Bardos nach Minas Tirith. Das war ihr von Anfang an klar gewesen. Doch sie hatte ihn darum gebeten, nein sie hatte ihn angefleht, dass sie nicht zurück in die Stadt wollte. Sie hatte dort nichts ... außer verachetnde Blicke. Sie war dort doch nur Abschaum, ein billiges Flittchen, welches schon wieder einen Bastard in sich trug.
Adlinn war erleichtert, dass sie sich doch nicht getäuscht hatte. Sie lächelte Bardos dankbar an. Insgeheim hatte sie sich doch schon mit Webstuhl, Baby und viel Wolle irgendwo im Wald stehen sehen, Minas Tirith zwar in Sichtweite, aber doch unerreichbar fern.
Minas Tirith bedeutete für sie die langersehnte Sicherheit vor den Brandschatzenden, neue Hoffnung für die Zukunft von Ban und ein klein wenig Abwechslung für sich selbst, fern vom Dorfleben. Es konnte nur besser werden in der Stadt. Keine Felder mehr, die sie an ihren verlorenen Mann erinnerten.
Sie ließ den Wagen auf der Höhe von Bardos Pferd weiterlaufen, der Weg war an dieser Stelle breit genug und nur wenig holprig. Mit einem Blick zu Ban merkte sie, dass er sich trotz seiner Müdigkeit in den Tüchern, die den Korb auspolsterten, völlig verheddert hatte. Noch ein paar Drehungen, und der kleine Mann würde sich selbst erdrosseln.
Sie schnitt eine Grimasse, ohne daran zu denken, dass diese für die beiden anderen sehr lustig aussehen musste und klemmte kurzentschlossen die Zügel zwischen die Knie. Dann griff sie Ban, hob ihn heraus und hielt ihn Ellena entgegen, die irgendwie besorgt aussah. »Hälst du ihn mal kurz, ja?«, fragte sie diese rein rhetorisch, denn sie hatte Ban schon rübergeschoben und das Tuch des Körbchens wieder in Form gesteckt.
Bei dem ganzen Hin und Her hatte sich eine große Haarsträhne aus ihrem Zopf gelößt und sie zog das Lederband, das die Haare hielt, mit Schwung heraus und hielt es mit den Zähnen. »Es geht doch kurz mit ihm, nicht war?«, nuschelte sie Ellena fragend zu und schüttelte die langen Haare aus, bevor sie sie über die Schulter zog und wieder zu flechten begann.
Die Geschehnisse auf dem Wagen lenkten Bardos dann doch wieder ab und ließen seine Beunruhigung abflauen. Der kleine Junge hielt das Leben von Adlinn ganz schön auf Trab. Bardos drehte seinen Brauen wieder in die richtige Richtung und folgte den beiden Frauen, so dass er wieder auf Höhe Ellenas ritt. Plötzlich musste er breit grinsen: Seine Schwester musste nun auch den Jungen halten. Der Kleine weinte eben noch, dann blickte er Ellena mit großen runden Augen an.
»Ich glaube, du hast einen neuen Verehrer«, neckte Bardos seine Schwester. »Schau, wie er dich anschaut. Völlig hin und weg.«
Bardos grinste zu Adlinn hinüber, die bereits wieder ihre Haare flocht. Zu ihrem Unglück hatte Bardos zu spät zu ihr geschaut und nicht gesehen, wie sie ihr blondes Haar schwang.
Mit seinem Finger begann er Bans Wange zu streicheln. »Ihr passt gut zusammen!«
In der Ferne kam nun ein Dorf oder ein Wirtshaus in Sicht, genau konnte man das noch nicht ausmachen. »Ach ja«, begann nun Bardos über ein typisches Männerthema zu sprechen. »Es ist ja schon Mittag … Wie wäre es, wenn wir dort vorn etwas essen würden? Natürlich sind die Damen eingeladen.«
Der junge Mann hatte nicht vergessen, dass sich beide Frauen um das Geld sorgten. Er schenkte beiden Frauen sein schönstes Lächeln und ließ seine Augen leicht bittend schauen.
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Das Thema, wohin ihre Reise führte, war wohl für Ellenas Mitreisenden nun abgeschlossen. Sie selbst musste sich wohl oder übel fügen. Auch wenn Bardos dazu nichts weiter gesagt hatte. Ellena würde ihn später fragen warum er ihr das antat. Dabei sollte sie ihm doch eigentlich so dankbar sein, dass er sie aus den Klauen von Undar befreit hatte.
Irgendwas schien Adlinn an dem Korb ihres Kindes zu stören, denn sie kniff sich die Zügel zwischen die Knie und hob ihr Baby heraus. So schnell konnte Ellena gar nicht schauen, da hatte ihr die Mutter schon den Kleinen in die Hände gedrückt. Etwas unsicher sah Ellena dem Kind in das Gesicht. Der kleine Junge quiekte nun vergnügt. Doch Ellena fühlte sich unwohl. Sie wusste gar nicht wie sie ihn halten sollte. Schließlich setzte sie ihn auf ihren Schoß, was wegen des Bauches gar nicht so einfach war.
Die Worte Bardos liesen sie kurz lächeln. Im Grunde hatte Ellena ja nichts gegen kleine Kinder. Sie kannte sich nur nicht aus und alles was mit diesen kleinen Wesen zu tun hatte, verunsicherte sie. Die junge Frau hat große Angst, etwas falsch zu machen. „Nimmst du ihn bitte wieder?“ fragte sie deshalb Adlinn, nachdem diese ihre Haare wieder zurecht gemacht hatte.
Doch da wurde sie von Bardos abgelenkt, der wohl ein Wirtshaus in der Nähe entdeckt hatte. Jetzt, nachdem das Brot ein wenig gegen die Übelkeit geholfen hatte, merkte Ellena auch, wie hungrig sie eigentlich war. Ja, sie hätte nun ein ganzes Pferd aufessen können. Wie lange war es her, dass sie eine ordentliche und vor allem ausreichende Mahlzeit zu sich genommen hatte?
Aber so wie sie gerade aussah? Die Haare waren zerzaust, das Kleid schmutzig und teilweise löchrig. Wollte sie so unter Leute? Ellena war sich so unsicher und glaubte, dass ihr wirklich jeder etwas böses wollte. „Ist da noch ein Brunnen oder Bach?“ fragte sie Bardos. Denn dann könnte sie sich zumindest ein bisschen waschen bevor sie dort einkehrten.
Auch Adlinn stimmte dem Plan, einzukehren und etwas zu essen gerne zu. »Das ist die beste Idee, die ich bis jetzt von Euch gehört habe,« neckte sie Bardos fröhlich und mustere danach Ellena, die sich sichtlich unwohl fühlte, Ban zu halten. Dabei schien Ban sich recht wohl zu fühlen, er quiekte vergnügt und brabbelte leise vor sich hin, wobei er immer, wenn er Ellena ansah, in ein breites Lächeln ausbrach. Unwillkürlich musste Adlinn mitlächeln.
Dann griff sie dem Kleinen unter die Arme und hob ihn zurück in den Korb. »Danke,« sagte sie zu Ellena, »er scheint dich wirklich zu mögen.«
Als Ellena nach einem Bach fragte, konnte Adlinn sie nur unterstützen. »Mir wäre eine kleine Gelegenheit auch recht, um sich zu waschen,« bestärkte sie sie deshalb.» Sicher gibt es dort einen Bach und einen ruhigen Fleck, wo man sich mal die Hände und das Gesicht waschen kann!«
Nachdem sie Ban wieder festgebunden hatte, der Ellena fest im Blick behielt, griff sie wieder nach den Zügeln, um die Pferde sicher zu halten.
›Ich glaube, ein großes Stück Braten wäre fantastisch,‹ dachte sie. ›Und vielleicht ein Schluck Bier.‹
Erleichtert blickte Bardos auf seine zwei Begleiterinnen. Gegen ein gutes Mittagsmahl hatten sie glücklicherweise nichts einzuwenden. Unwillkürlich rieb sich Bardos seinen Bauch. Er malte sich schon einen guten Wildgulasch mit Hefeklößen und Rotkraut aus.
Die Reinlichkeitsgelüste der Damen brachten ihn wieder in die Gegenwart zurück. »Gewiss gibt es einen Bach«, lächelte er die beiden an. »Ein Bach verläuft schon seit einigen Meilen kaum 30 Fuß von der Straße entfernt. Ihr könnt euch also schön machen, wann und wo immer ihr möchtet. Dabei glaube ich kaum, dass ihr noch schöner werden könnt!«
Abermals lächelte Bardos die Frauen charmant an und zwinkerte ihnen zu. »Wahrscheinlich geht es euch jedoch nur um mein Aussehen«, meinte Bardos dann betrübt. Tatsächlich waren seine Hände beim Einspannen der Pferde schmutzig geworden. Außerdem war da noch der Fleck auf seinem Hemd. »Doch ich werde mich natürlich bemühen, mich eurer Schönheit anzugleichen. Auch wenn mir das nie gelingen wird!«
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Endlich wurde Ellena von diesem kleinen Mann, welcher sie unentwegt anstarrte, befreit. „Dem hat noch niemand beigebracht nicht zu starren ...“, murmelte Ellena, wusste aber genau dass Adlinn dies hören konnte. Es war ihr aber egal. Das Kind hier verunsicherte sie nur noch mehr.
Bardos gab nun an, dass es hier tatsächlich einen Bach gab. Ellena hatte schon vorhin gemeint leises Plätschern zu vernehmen. Dann hatte sie sich also nicht geirrt. Doch Bardos machte sie wütend. Am liebsten hätte sie ihm eine geknallt. Sie kam sich gerade wegen seiner Worte wirklich veräppelt vor. Nein, Ellena war nicht eitel oder wollte sich einfach nur hübsch machen für irgendwelche Männer. Für wahr nicht! Nein, sie würde in ihrem Leben nie wieder einen fremden Mann auch nur ansehen.
Und nein, Ellena war gerade wahrlich nicht hübsch. In den Augen ihres Bruders vielleicht ... Sie wirkte einfach nur verwahrlost, abgemagert, den Bauch mal nicht einbeschlossen, und schmutzig. Und da halfen auch Bardos Komplimente und Scherze nichts.
Am Bach
Adlinn lenkte den Wagen auf einen kleinen schmalen Weg, welcher zum Bach führte. Dort angekommen, ließ sie die Pferde anhalten. Bardos war rasch abgesprungen und half seiner Schwester nun vom Wagen, während Adlinn es alleine schaffte.
Mit langsamen Schritten näherte sich Ellena dem fließenden Wasser. Es sah klar aus und war sicherlich kalt. Als sie dort ankam, kniete sich das Mädchen etwas umständlich nach unten und sah in das Wasser. Ihr Spiegelbild gefiel ihr nicht mehr. Früher hatte sie sich einmal attraktiv gefühlt. Aber nun ... Vorsichtig griff sie in das zerzauste Haar, das teilweise schon verfilzt war. Undar war dies alles egal gewesen. Ihr Aussehen, ihre Kleidung ... Hauptsache sie arbeitete und machte für ihn die Beine breit wann immer er es verlangte. Ob Adlinn wohl eine Bürste bei sich hat? ... fragte sich das Mädchen, während sie noch immer traurig in das Wasser blickte.
Wurzeln und Stöcken knackten unter ihren Füßen, als Adlinn vom Wagen stieg. Ban war auf den letztn Metern eingeschlummert, deshalb ließ sie ihn im Körbchen liegen, sie hatte ihn ja im Blick.
Sie sah, dass Ellena sich am Bach hinkniete. Sicher würde sie doch trinken können, ohne reinzufallen? ›Aber mit dem Bauch ist es schon schwierig.‹, dachte sie. Überhaupt sah Ellena vom Äußerlichen so aus, als wäre es ihr wahrlich nicht gut ergangen, überlegte sie, während sie hinten am Wagen in ihrer Truhe kramte. Die Haare waren verfilzt und sahen so aus, als ob sie schon Jahre keine Bürste mehr... ›Ah! Eine Bürste! Und vielleicht eine Schere für die verfilzten Strähnchen... ‹
Adlinn begann fröhlich zu pfeifen, als sie Lage um Lage in ihrer Truhe zur Seite schon und nach der Bürste kramte. Als sie diese gefunden hatte, fiel ihr auch noch ein großes, besticktes Schultertuch in die Hände, mit dem man gut ein wenig Schmutz am Oberteil abdecken konnte. Mit Schwung schloss sie die Truhe und ein paar Vögel flatterten auf.
Als sie dann auf Ellena am Bach zuging, hielt sie einen kleinen Stapel von Dingen im Arm. Sie ließ sich neben Ellena nieder, legte den Stapel neben sich und begann sich die Haare zu bürsten. Dann hob sie ein Tuch vom Stapel, wobei eine Schere zum Vorschein kam, die darunter verborgen lag. Sie tauchte das Tuch ein und wischte sich das Gesicht ab.
»Das tut gut,« seufzte sie und lächelte Ellena an, die trübsinnig dreinblickte. »Magst du nicht auch?,« fragte sie dann und schob den ganzen Stapel zu ihr rüber, wobei sie ein zweites Tuch, die Bürste, die kleine Schere und das große Schultertuch mit in das Angebot einschloss. Sie wartete gespannt und vorsichtig, ob Ellena dieses Freundschaftsangebot annehmen würde.
»Vielleicht sollten wir den Herren da auch mal säubern, «sagte sie dann bewusst lauter, damit Bardos sie hören konnte. »Männer haben ja ein Talent, sich Flecken aufs Hemd zu machen!«
Bardos suchte ebenfalls in seinem Gepäck und fand ein Stück wohlriechende Seife, die er in Minas Tirith gekauft hatte. Dann nahm er ein Tuch zum Abtrocknen mit und ging zu Ellena hinüber. »Hier Kleines«, sagte er und strich ihr über den Rücken, »falls du dich mit Seife waschen möchtest. Daran ein Kleid für dich mitzubringen habe ich leider in der Hektik nicht gedacht. Ich fürchte aber, dass es dir wegen deines Bauches nicht gepasst hätte …« Bardos hatte sich inzwischen schräg hinter Ellena gekniet und strich ihr nun vorsichtig über ihren Bauch. Er küsste sanft die Schläfe Ellenas, als er Adlinns neckende Worte hörte.
»Das ist ein verlockendes Angebot, Adlinn von Euch gewaschen zu werden«, grinste Bardos sie an, »aber Ihr seid doch nicht meine Dienerin. So muss ich das wohl leider allein erledigen.«
Noch einmal grinste er Adlinn an, dann wisperte er Ellena ins Ohr: »Sie ist aber nicht gerade schüchtern, hm?«
Dann nahm er die Seife, die Ellena noch nicht angerührt hatte und trat zum Bach, um sich die schmutzigen Hände zu waschen. Das war schnell erledigt, dann widmete sich Bardos dem Fleck auf seiner Brust. Mit der Seife ging er zwar leicht heraus, aber das Hemd war nun nass.
Auf den nassen Fleck starrend stand Bardos auf. Er warf die Seife auf das Tuch neben seiner Schwester und blickte seine Schwester zweifelnd an. »Ich glaube nicht, dass das bis zum Wirtshaus trocknet. Was meinst du?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, zog sich Bardos das Hemd über den Kopf. »Ich werde es einfach auf den Wagen legen, da wird es schon trocknen.«
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Nur wer seine Rechnungen nicht bezahlt, darf hoffen, im Gedächtnis der Kaufleute weiterzuleben. (Oscar Wilde)