Noch immer betrachtete sich Ellena im klaren Wasser, als sich Adlinn neben ihr niederließ und alle möglichen Waschutensilien ausbreitete. Der kleine Ban schien in seinem Körbchen zu schlummern und deshalb hatte sie ihn nicht bei sich. Die beiden Hunde wateten durch das Wasser und erfrischten sich ebenfalls vom langen Fußmarsch.
Während sich Adlinn wusch, saß Ellena trostlos da. Doch schließlich schob Adlinn die Utensilien zu ihr und bot an diese mit zu benutzen. „Darf ich wirklich?“ fragte Ellena leicht unsicher und griff nach dem sauberen Tuch. Da spürte das Mädchen eine Bewegung hinter sich. Bardos kniete dort und reichte ihr eine Seife. Schließlich strich er sanft über ihren Bauch und hauchte Ellena einen Kuss auf. „Ja ... danke!“ meinte sie nur.
Irgendwie fühlte sich Ellena gerade von zwei Seiten bedrängt und hoffte einfach nur, dass Adlinn ihre Drohung wahr machte und Bardos wusch. Eigentlich war es Ellena egal was die beiden taten, nur sollten sie ihr hier ihre Ruhe lassen.
Ellena tauchte das Tuch in das kühle Wasser und wusch sich anschließend das Gesicht damit. Die gut riechende Seife kam auch zum Einsatz und schon bald war ihr Gesicht, der Hals und das Dekolletee vom gröbsten Schmutz befreit.
Zögernd griff Ellena nach der Bürste und begann ihre Haare damit durch zu kämmen. Dabei verzog sie das Gesicht, denn es ziepfte fürchterlich und Tränen traten dem Mädchen in die Augen. Das wollte einfach nicht richtig gelingen. An zwei Stellen kam sie überhaupt nicht durch, da sich einige Knötchen gebildet hatten.
Aber abschneiden? Ellena sah auf die kleine Schere. Es waren nur wenige Strähnen, doch trotzdem hatte sie ihr langes, schwarzes Haar eine Ewigkeit wachsen lassen und es war eben auch schade um diese paar Büschel. Unsicher sah sie zu Adlinn, welche noch immer neben ihr kniete. Dass sich Bardos mittlerweile seines Hemds entledigt hatte, bekam sie nur am Rande mit. Warum sollte sie daran Anstoß nehmen? Er war ihr Bruder und sie wusste wie er nackt aussah.
Adlinn beobachtete, wie Ellena die Haare vorsichtig durchkämmte. Sicherlich ziepte es furchtbar, und sie verzog mitfühlend das Gesicht. Nebenbei lächelte sie, als Bardos ihr Angebot ablehnte und beobachtete dann, wie er sich kurzentschlossen das Hemd auszog. Sie betrachtete ihn unverhohlen, bis ihr dies bewusst wurde. Schnell blickte sie zu Ellena, ob diese es bemerkt hatte, und sah da nur noch aus den Augenwinkeln zu dem jungen Mann hin.
›Gut sieht er aus‹, kam ihr der Gedanke,› noch besser als ich gedacht hatte.‹ Dann entdeckte sie eine gut verheilte Narbe an seiner rechten Schulter, und sie fragte sich kurz, was sie alles über den Mann wusste - oder besser eben nicht wusste. ›Himmel, du findest jemanden attraktiv, von dem du überhaupt nicht weiß, welche Art Mann er überhaupt ist,‹ schalt sie sich dann.
Sie stand auf und ging zum Wagen, um ihr nasses Tuch aufzuhängen. Diesen Moment nutzen die Hunde, die bisher im Wasser gewatet hatten, um sich um einen Fisch zu streiten, den sie wohl gefangen hatten. Sie knurrten und umkreisten sich, dann fiel der Fisch ins Wasser zurück und aus dem Streit entwickelte sich ein wildes Spiel, bei dem die Hunde wie besengt durchs Wasser stoben und Fontänen in alle Richtungen spritzen.
Adlinn rief sie mit lauter Stimme zur Räson, wurde jedoch ignoriert und bekam, als sie eingreifen wollte, einen Schwall Wasser ab, der ihren Rock und die Haare durchweichte. »Gul, du elendes Vieh!«, rief sie wütend und drohte den Hunden mit der Faust, als diese in den Wald davonstoben. Sie blickte an sich herunter und schüttelte leicht den nassen Rock aus. ›Na wunderbar,‹ dachte sie. ›Ich kann mich jetzt wahrlich schlecht auch ausziehen.‹ Dabei blickte sie Bardos unter ihren nassen Haarsträhnen hervor an und musste plötzlich über die ganze Situation schmunzeln. Da hatte der Halt am Wasser mehr Schaden als Nutzen angerichtet, zumindest für sie.
Das Lachen kribbelte ihr erst in der Kehle, dann konnte sie sich nicht mehr halten. Erst lachte sie herzlich, dann kicherte sie haltlos, während sie sich am Wagen festhielt. Es tat gut, nach all den Wochen in Sorge und sie konnte sich nicht bremsen.
›Diese Hunde, immer für eine Überraschung gut. Ich sollte noch ein paar kaufen.‹
Gerade als Bardos sein Hemd auf dem Wagen ausgebreitet hatte, so dass die Sonne gut heran kam, fingen Adlinns Hunde an verrückt zu spielen. Während das Pferd des Bauern diesen Streit einigermaßen teilnahmslos beobachtete, war Thalion bedeutend unruhiger. Er wieherte voll Sorge und wollte sich aufbäumen. Bardos hiehlt ihn an der Trense fest und sprach beruhigend auf ihn ein.
»Alles ist gut Thalion. Die Viecher tun dir nichts. Alles ist gut. Komm schon. Beruhige dich.«
Doch erst als die Hunde in Richtung Wald rannten, hörte Thalion auf seinen Herrn. Bardos Blick ging zu der kleinen Adlinn, die ihn unter ihren nassen Haaren anschaute. Wäre Adlinn ein Freund gewesen und hätte sich Thalion nicht so aufgeregt, hätte der junge Mann vielleicht über diese Situation gelacht. Nun aber zog er die Stirn kraus, als er Adlinns Lachanfall bemerkte.
»Keine Ahnung, was das für eine Frau ist!«, flüsterte Bardos Thalion entschuldigend zu. »Sie hat sich mehr oder weniger selbst eingeladen.«
Er strich über Thalions Kopf und machte sich dann an seinem Gepäck zu schaffen. Grübelnd stand er einen Augenblick da: Die Auswahl seiner Hemden war deutlich geschrumpft. Gewiss lagen in Minas Tirith noch ein ganzer Stapel an fein gewirkten Hemden, aber er hatte nur drei davon mitgenommen — mehr als genug für so eine Mission. Aber er hatte Miléndra eines seiner Hemden geschenkt. ›Miléndra‹, dachte Bardos und sofort wurde ihm warm ums Herz. ›Ob sie mein Hemd wohl gerade in den Händen hält? Und an ihren zwarten Körper drückt?‹
Ein sehnsuchtsvoller Seufzer entglitt Bardos Mund. Dann zog er sein weißes Hemd heraus und vergrub sein Gesicht in ihm. Er versuchte Miléndras Duft in dem Stoff nachzuspüren, denn sie hatte es, wenn auch nur ein oder zwei Stunden, getragen. Mit etwas Fantasie gelang es Bardos schließlich auch. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht, kam er wieder aus dem Stoff hervor und bald lag der weiche Stoff auf seiner behaarten Brust. Er stopfte das Hemd in die Hose, ohne sie zu öffnen und strich noch einmal in der Herzgegend über den Stoff. Er bildete sich ein, dass Miléndras Körper ihn auf diese Weise noch einmal umarmte.
Schließlich zog er die Decke heraus, unter der er sich des Nachts unter dem Sternenhimmel Gondors zur Ruhe legte, sollte sich kein Bett für ihn finden. Mit ihr bewaffnet ging er zu Adlinn, welche mittlerweile aufgehört hatte zu kichern.
»Hier«, streckte Bardos ihr die Decke entgegen. »Falls Ihr Euch darunter umziehen wollt. Mit dem nassen Rock solltet ihr besser nicht in ein Wirtshaus gehen!«
Bardos war darauf bedacht, Adlinn ins Gesicht zu sehen und nicht auf den nassen Rock, der nun die Konturen ihrer Beine andeutete. Er nickte ihr leicht zu und ging dann zu seiner Schwester hinüber, welche noch immer versuchte ihre Fitze aus den Haaren zu bekommen.
»Soll ich es einmal versuchen?«, fragte Bardos.
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Nur wer seine Rechnungen nicht bezahlt, darf hoffen, im Gedächtnis der Kaufleute weiterzuleben. (Oscar Wilde)
Nun spielten auch noch die Hunde verrückt. Zumindest verhielten sich die beiden ziemlich kindisch, wie sie um diesen mickrigen Fisch, von welchem keiner von beiden satt werden würde, stritten. Ellena beobachtete die beiden großen Tiere aus den Augenwinkeln, bis diese Adlinn völlig nass spritzten. Schnell sah Ellena weg, denn Adlinn war das ganze sicherlich peinlich.
Doch dann brach diese plötzlich in lautes Gelächter aus und Ellena verstand gar nicht was los war. Warum lachte diese Frau nun? Was war denn so komisch? Verwirrt sah Ellena von Adlinn zu Bardos und zurück. Schließlich konzentrierte sich das Mädchen aber wieder auf ihre verfilzten Haare, die einfach nicht so wollten wie sie. Ellena überlegte dabei, wann sie das letzte mal aus vollem Halse gelacht hatte und mit vollem Herzen. Es war lange her ... es war sicherlich vor dem Tod ihres Kindes gewesen.
Würde sich Adlinn nun auch ausziehen? Ellena nahm an, dass zumindest diese Frau mehr Kleider bei sich hatte, da sie ja mit ihrem ganzen Habe nach Minas Tirith umzog. Ellena würde sich erst bei Gelegenheit ein neues Kleid kaufen müssen. Und dann auch noch ein Umstandskleid, denn in ein anderes würde sie sicherlich nicht mehr passen.
Als Bardos nun kam und sie fragte ob er ihr bei dem Haarproblem helfen sollte, seufzte Ellena und setzte sich schließlich auf den Boden, denn das lange in der Hocke verweilen war viel zu anstrengend. Dann reichte sie Bardos die Bürste und stellte sich innerlich schon auf Schmerzen ein. „Ich glaub nicht, dass du das schaffst ... es ist einfach zu arg verfilzt“, meinte sie leise und traurig. Dann würde sie die Strähnen wohl doch abschneiden müssen.
Als Bardos ihr die Decke reichte, schluckte Adlinn das letzte Lachen hinunter und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. ›Meine Güte,‹ dachte sie, ›an wen bin ich denn hier geraten, dass sie noch nicht mal über die dummen Hunde und Wasserspiele lachen können?‹ Fast war sie ein wenig beleidigt, weil niemand ihren Humor teilte, erkannte aber dann, dass es vielleicht das bisher Erlebte war, das ihnen das befreiende Lachen verleidetete. Zumindest Ellena. Warum Bardos nicht über solche Missgeschicke lachen konnte, war ihr rätselhaft, wahrscheinlich waren Männer eben anders gestrickt. Ihr früherer Mann hatte jedoch gerne laut gelacht.
Sie wickelte sich in die Decke ein und befestigte sie am Hals mit einer Fibel, so dass sie wie ein Zelt an ihr herunterfiel und sie sich darunter umziehen konnte. Zwar war es ihr nicht peinlich, dass der Rock an den Waden klebte, aber der nasse Stoff war dann doch unangenehm. Aus der Truhe kramte sie einen anderen Rock und zog sich unter dem Mantel um. Als sie fertig war, faltete sie den Mantel zusammen und legte ihn auf den Wagen. Dabei fiel ihr ihre Handspindel ins Auge und sie befestigte sie am Gürtel, ebenso wie eine kleine Tasche, in der sich ein wenig Wolle befand. ›Vielleicht finde ich ja nacher ein wenig Zeit dazu, ‹dachte sie.
Als sie hochsah bemerkte sie, dass Ban wieder erwacht war und geduldig die Baumkronen über ihm bestaunte. Adlinn blickte zu Ellena und Bardos, der mittlerweile eigenhändig versuchte, die verfilzten Haarsträhnen seiner Schwester auszukämmen. Es sah nicht besonders erfolgreich aus, schon weil Adlinn sich nicht vorstellen konnte, dass ein Mann viel Erfahrung darin hatte, lange Haare auszukämmen.
Da es jedoch so schien, als würde es noch eine Weile dauern, hob Adlinn Ban aus dem Körbchen, zog ihm die Strümpfe aus und setzte sich an einer seichten Stelle an den Fluss. Dort entschied sie, dass sie selbst ein wenig mit Ban im Wasser spielen könnte, und steckte den Rock so hoch, dass ihre Füße und Waden frei waren. Ob dies den anderen peinlich war, kümmerte sie nicht, sie hatte auf dem Hof regelmäßig mit freien Waden gearbeitet, weil es für viele Tätigkeiten sinnvoller war, und war es deshalb gewohnt. Sie stieg in das seichte Flussbett und hob Ban an den Händchen auf eine schmale Stelle, wo große Steine dicht unter der Oberfläche lagen. Ban quäkte erfreut und panschte mit den Füßchen im Wasser und Adlinn freute sich, dass sie so ein Sonnenscheinchen zum Sohn hatte.
Mit einem Blick an Ellena und Bardos vorbei sah sie ihre Hunde, jetzt friedlich, im Schatten liegen.
»Aber ein Versuch ist es Wert«, sagte Bardos liebevoll zu seiner Schwester und begann vorsichtig die Fitze zu bearbeiten. Das war alles andere als einfach, weil er seiner Schwester auch nicht weh tun wollte. Und die Bürste war recht ungeeignet dafür. Nach ein paar Minuten gab er seufzend auf. Er hatte mehr Haare abgebrochen als von Fitzen befreit. »Ich fürchte, das bringt nichts, Brunderei. Ich schneide die verfilzten Strähnen ab, ja? Ich bin sicher, dass das gar nicht weiter auffällt.«
Ellena blieb nichts anderes übrig, als zuzustimmen und Bardos schnitt vorsichtig die Haarsträhnen ab. Dann bürstete er noch einmal die Haare durch und strich mit der Hand darüber. Sie waren nicht mehr so weich wie früher, was wohl daran lag, dass seine Schwester nur selten die Haare waschen konnte. Aber sie waren noch immer sehr dunkel und lang.
»Man sieht gar nichts«, sagte Bardos wahrheitsgemäß. Dann fügte er leise hinzu: »Meinst du, wir können uns nach dem Mittagsessen mal unterhalten? Nur wir beide? Ich glaube, das täte uns gut …«
Bardos blick wanderte hinüber zu Adlinn, die mit nackten Waden im Bach stand und ihren Sohn im Wasser plantschen ließ. Sein Gesichtsausdruck war wissbegierig und wurde dann zu einem Lächeln. »Schau mal«, sagte er zu Ellena. »Das wirst du auch bald machen können. Oder ich. Der Springbrunnen in unserem Garten bietet sich ja an. Oder wir gehen auf den Pelennor runter.«
Dann rief er Adlinn grinsend zu: »Passt bloß gut auf, dass Ihr nicht auch noch in den Bach fallt! Oder habt ihr so viele Kleider zum Wechseln mit?«
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Bardos gab sich wirklich mühe und versuchte dabei auch noch möglichst sanft vorzugehen. Ab und wann zipfte es aber doch, so dass Ellena kurz die Luft einzog. Doch auch Bardos hatte keinen Erfolg und griff schließlich zur Schere, welche Adlinn wohl schon wissend zu den Waschutensilien gelegt hatte. Ellena hatte Bardos mit einem Nicken zu verstehen gegeben, dass sie sich ihrem Schicksal beugte. Es waren ja nur ein paar Strähnen.
Als Bardos nun meinte er würde sich gerne nach dem Essen alleine unter vier Augen mit ihr unterhalten, sah ihm Ellena kurz zum ersten mal länger in die Augen. Sie war ihm so dankbar, dass er sie befreit hatte und sich nun so um ihn kümmerte. Aber wollte sie sich aussprechen? Sie fühlte sich bei dem Gedanken unwohl. Ja, dir täte es wahrscheinlich gut ... bei mir bin ich mir nicht sicher ..., dachte sich Ellena. „Wenn du willst ... Aber ich ... du sprichst ja?“ fragte sie dann noch. Eine Konversation würde man das dann wahrscheinlich nicht nennen können.
Ellenas Blick fiel auf das dunkle Schultertuch, welches neben ihr lag. Hatte es Adlinn vergessen oder wollte sie Ellena damit anbieten es zu tragen, da diese kein sauberes Kleid bei sich hatte. Das Mädchen griff sich das Stück Leinen und legte es sich über die Schulter. Es roch frisch gewaschen und Ellena vergrub kurz ihr Gesicht in dem weichen Kleidungsstück.
Ihr Bruder machte sie nun auf ihre Reisebegleitung und deren Sohn aufmerksam, welche zusammen beim Wasser plantschten. Ellena schluckte, als sie Bardos Worte hörte. Denn er hatte recht. Doch noch wollte sich die junge Frau das nicht eingestehen. „Das hat man mir schon einmal versprochen!“ meinte sie barsch und rappelte sich dann, ohne weiter auf Bardos zu achten, vom Boden auf und ging zurück zum Wagen.
Nein, Ellena hatte es vorhin nicht überhört. Bardos hatte sie schon wieder Brunderei genannt, als er ihr die Haare kämmte. Doch sie würde ihn nicht jedes mal darauf hinweisen. So würde sie selbst nicht vergessen können.
Adlinn hob ihr Söhnchen gerade mit Schwung aus dem Wasser, so dass Wasserspritzer von seinen kleinen Füßen durch die Luft spritzten, als sie Bardos Worte hörte.
»Ha!«, rief sie zurück. »So ein Tollpatsch bin ich dann auch nicht! Und wollt ihr wetten, dass ich mehr Sachen zum Wechseln mithabe als ihr?« Sie schmunzelte.
Dann stieg sie aus dem Fluss und trocknete Ban uns sich die Füße ab. Dabei sah sie, dass Ellenas Haare mittlerweile gekämmt waren und nur wenige Strähnen der Schere zum Opfer gefallen waren. Ellena hatte sich das Schultertuch umgehängt und ging zum Wagen. ›Das dunkle Tuch steht ihr wirklich gut zu den schwarzen Haaren‹, dachte Adlinn.
Sie beeilte sich mit dem Abtrocknen, da es so aussah, als seien die beiden anderen abfahrbereit, und das Loch in ihrem Bauch wurde immer größer.
So recht wusste Bardos gerade gar nicht, was seine Schwester hatte. Was meinte sie damit, dass man ihr das schon einmal versprochen hätte? Was war »das«? Hatte er ihr vielleicht etwas versprochen und nicht gehalten?
›Du wolltest sie beschützen. Immer und jederzeit‹, dachte Bardos. ›Aber du bist Soldat geworden und hast sie allein gelassen.‹
Dem jungen Mann gefiel es gar nicht, dass die Stimmung zwischen seiner Schwester und ihm so gespannt war. Aber er wusste, dass er gerade nichts tun konnte. Die Anwesenheit Adlinns machte es unmöglich ein reinigendes Gespräch mit Ellena zu führen.
Es war daher eher ein gekünsteltes Lächeln, das er Adlinn zuwarf, während er antwortete: »Wollt Ihr mich reizen, das auszutesten?«
Er tat natürlich nichts dergleichen, sondern ging langsam hinter Ellena hinterher. Bei ihr angekommen, strich er ihr vorsichtig über den Rücken und half ihr dann Aufsteigen.
»Ich wollte dich nicht verletzen«, sagte er leise und blicke offen in Ellenas dunkle Augen.
Da kam schon Adlinn mit Ban angelaufen. Vorsichtig setzte Bardos den kleinen Ban in seinen Korb, band ihn aber nicht fest. Dann half er auch Adlinn auf den Wagen, indem er ihre kleine Hand erfasste und ihr eine Stütze war.
Ellena hatte gehört, dass Bardos ihr zum Wagen folgte. Dementsprechend erschrak sie auch nicht, als sie seine Hand auf ihrem Rücken spürte. Der junge Mann half Ellena zurück auf den Wagen und entschuldigte sich sogar. Doch für was? Es war nicht Bardos Schuld. Und es tat dem Mädchen auch unendlich leid, dass sie so reagierte. Dabei musste sie doch selbst endlich mit ihren Gefühlen klar kommen. Dass sie Bardos anfuhr war nicht gerecht.
„Nein ... nein, mir tut es leid. Bardos, ich weiß, dass du nur nett sein willst.“Und du benimmst dich unmöglich ... ermahnte sich Ellena selbst. Doch sie war gerade gefühlsmäßig ziemlich am Boden. Es würde sich ändern. Alles würde sich ab nun ändern. Das furchtbare Leben bei Undar auf dem Hof hatte ein Ende. Sie wurde von niemandem mehr benutzt und war wieder ein freier Mensch. Nun galt es diese Freiheit auch zu nutzen und das beste daraus zu machen.
Auch Adlinn war mittlerweile wieder auf den Wagen gestiegen und es sah alles danach aus, als könnten sie nun weiter zum Gasthof fahren. „Danke für das Tuch“, meinte Ellena zu der jungen Frau neben sich. „Ich werde es nicht schmutzig machen und darauf aufpassen. Versprochen!“ Ellena nickte und wartete darauf, dass Adlinn die Pferde wieder in Bewegung setzte.
›Dämmern‹, dachte Bardos. ›Hoffentlich machen wir noch ein paar Rastpausen. Obwohl mit so einem Apfelkuchen lässt es sich überall gut leben!‹
Genießerisch biss Bardos in ein weiteres Stück Apfelkuchen. Er saß auf Thalion und lenkte ihn nur mit den Beinen. Die Hände brauchte er, um das Blech und sein Stück Kuchen zu halten. Nach drei Stück Kuchen war er dann aber doch satt und er reichte das Blech Ellena.
»Was für ein schöner Tag«, sagte Bardos, doch als sein Blick zum Himmel ging, sah er wie sich graue Regenwolken zusammen zogen. »Hm. Es sieht nach Regen aus. Euer Webstuhl soll gewiss nicht nass werden, Adlinn? Habt Ihr etwas zum Abdecken mit oder brauchen wir etwas zum Unterstellen?«
Die Frauen würden sowieos nicht bei Regen fahren können. Ellena nicht und der kleine Ban erst recht nicht.
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Nur wer seine Rechnungen nicht bezahlt, darf hoffen, im Gedächtnis der Kaufleute weiterzuleben. (Oscar Wilde)
Endlich ging es weiter und schon bald hatten die drei Reisenden die Straße wieder erreicht. Ellena fühlte sich das erste mal seit langem wieder einigermaßen gesättigt. Vielleicht hätte sie noch mehr gegessen, wenn Bardos nicht dieses Gespräch, welches nicht zu Ende geführt worden war, nicht begonnen hätte. Nun, daran konnte man jetzt nichts mehr ändern und Ellena war wirklich froh, dass sie wieder unterwegs waren und sie so den gaffenden Blicken der anderen Gasthofbesucher entrinnen konnte.
Ellena sah, wie ihr Bruder den Apfelkuchen mit dem Tablett balancierte und auf dem Pferderücken aß. Sollte Thalion erschrecken und einen Satz zur Seite machen, so würde der Kuchen wohl auf der Erde landen. Doch das Pferd blieb ruhig und auch Bardos schien langsam gesättigt. Er legte das Tablett auf Ellenas Schoß ab, bevor er, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, neben ihnen her ritt.
Da das Mädchen den Kuchen nicht die ganze Zeit halten wollte, stellte sie ihn kurzerhand hinter sich auf die Ladefläche beziehungsweise auf Adlinns Habseligkeiten. Vielleicht würde sie später auch noch ein Stück davon essen. Aber das hatte Zeit.
Beunruhigt starrte sie nun gen Himmel, als Bardos von Regen sprach. Dort oben sah es wirklich nicht gut aus. Dunkle Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben. Ellena befürchtete, dass sie das Wetter aufhalten konnte. „Mir macht der Regen nichts aus. Meinetwegen können wir auch weiter fahren“, meinte Ellena leise, während bereits die ersten paar Tropfen auf ihr altes, schäbiges Kleid fielen.
›Soviel zum schnellen Vorankommen,‹ grummelte Adlinn und fühlte, wie auch ihr erste Tropfen aufs Gesicht fielen. »Ich habe keine Plane für den Wagen, tut mir leid!,« rief sie Bardos zu. »Wir müssen uns unterstellen!«
Dann trieb sie die Pferde in einen kleinen Trab, weil sie in Sichtweite eine Baumgruppe zu sehen glaubte, die aus mehreren großen Bäumen bestand und ein dichtes Blätterdach zu haben schien.
Der Wagen hüpfte ein wenig auf und ab und ruckelte, und Adlinn legte eine Hand auf Ban, damit er nicht aus dem Körbchen fiel. Ihm schien die schnellere Fahrt Spaß zu machen, er lachte quietschend auf, aber sie wollte wegen Ellenas Zustand nicht noch schneller fahren.
Schnell näherten sie sich nun dem ausgewählten Unterstand, und Adlinn bremste die Pferde und lenkte sie darunter. Der Regen fiel immer dichter und veranstalteten ein Trommelkonzert auf den Blättern, doch unter den Baumkronen war es trocken.
Adlinn nahm Ban auf den Arm und stieg ab. Die Pferde band sie locker an einen Ast, sie schienen auch froh zu sein, aus dem Regen gekommen zu sein. Hinter ihnen kamen Gul und Rugul heran, Rugul immer noch stark hinkend.
›Ich nehme ich doch nachher auf den Wagen‹, befand Adlinn. ›Das gefällt mir nicht so recht mit dem Hinterbein.‹
Dann setzte sie sich auf einen großen Baumstamm, der am Boden lag. Weitere lagen in einer Runde und dazwischen schien ein kleines Feuer in früherer Zeit gebrannt zu haben.
»Seht mal«, rief sie den anderen zu. »Es scheint ein guter Platz hier zu sein, hier hat schonmal jemand etwas gegrillt!« Dann setzte sie sich breitbeinig hin und breitete mit der einen Hand den Rock aus. Mit der anderen setzte sie Ban auf den weichen Waldboden und ließ ihn krabbeln. »Aber keine Käfer essen, ist das klar, kleiner Mann?«, flüsterte sie ihm zu. Dabei hatte sie ihn nämlich schon mehrmals erwischt, immer kurz vor knapp.
Im Gegensatz zu Adlinn trieb Bardos seinen Braunen nicht an. Er brauchte einen Moment für sich, um sich über Adlinn zu wundern. Sie war eine sehr selbstständige Frau, welche immer wusste, was sie wollte und was zu tun war. Nun gut, vorhin vor dem Gasthaus war sie in Not geraten, aber Bardos war sich sicher, dass sie es auch allein geschafft hätte. Auf welche Weise auch immer.
Grübelnd fuhr sich Bardos über das Kinn. ›Eine ungewöhnliche Frau‹, dachte er. Aber er dachte dies nicht mit warmen, sondern eher mit skeptischen Gefühlen. ›Sie ist einfach nicht die Sorte Frau, die ich mag‹, gestand sich Bardos ein und trieb dann Thalion doch an. Er mochte nicht mit durchnässtem Hemd ankommen. Insgeheim ärgerte er sich nun darüber, dass er vorhin sein Hemd überhaupt ausgezogen hatte. ›Was, wenn Adlinn ein Auge auf mich geworfen hat?‹, grübelte er. ›Das würde die Reise deutlich erschweren.‹
Als Bardos bei den Bäumen angekommen war, unter welchen Adlinn den Wagen gestellt hatte, sprang er rasch ab und half seiner Schwester vom Wagen. Thalion band er anschließend an einen Ast. Einige Momente sah er Adlinn und dem kleinen Ban zu, dann drehte er sich um und ging mit den Worten: »Ich bin einmal für Königstiger …« ein Stück weg. Im Gasthaus hatte er die Gelegenheit für den Abbort nicht nutzen können. Aber er war froh, dass er sich hier im Wald erleichtern konnte. So ein Abbort stank meistens fürchterlich.
Bevor er seine Hose aufschnürte, blickte sich Bardos noch einmal um und vergewisserte sich, dass keine der Frauen ihm gefolgt waren. Weder leiblich noch mit Blicken.
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Nur wer seine Rechnungen nicht bezahlt, darf hoffen, im Gedächtnis der Kaufleute weiterzuleben. (Oscar Wilde)
Adlinn beobachtete, wie sich Bardos vom Lager entfernte.»Für Königstiger«, dachte sie spöttisch. ›Wo hat er denn die Redewendung aufgeschnappt, der edle Herr? Klingt jawohl absolut seltsam.‹
Nachdem sie sich versichert hatte, dass Ban fest auf seinem Hintern saß und Stöckchen zu Türmen baute, ließ sie ihren Blick schweifen und er blieb dann an Gul und Rugul hängen. Die Hunde hatten sich ein ganzes Stück ins Unterholz zurückgezogen und kauten auf etwas.
Hochgradig verdächtig, beschied Adlinn und stand eilig auf, um sich anzusehen, was die beiden da wieder aufgegabelt hatten. Außerdem konnte sie dabei gleich mal nach Ruguls Bein sehen.
Mit großen Schritten schritt sie durchs Unterholz, stieg über dicke Stämme und bückte sich unter Gestrüpp durch, dann kniete sie neben den Hunden. Als sie Rugul befahl, das Erbeutete auszuspucken, gehorchte er missmutig und Adlinn konnte sehen, dass es sich wohl um den Rest eines Kaninchens handelte.
»Igitt,« beschied sie und ekelte sich. »Ihr seid abgrundtief widerlich! « Doch das Stück Fleisch ließ sie den Hunden, die genüsslich daran herumkauten.
Mit Vorsicht tastete sie dann an Ruguls Hüfte und Bein herum, hob es vorsichtig an und fühlte nach dem Knochen. Es schien nicht so, als ob er gebrochen war, und Gul ließ alles ohne Anzeichen von Schmerzen über sich ergehen. Erst als Adlinn den Fuß begutachtete, äußerte er Unwillen und Adlinn sah, dass wohl ein Zeh gebrochen war.
Sie ließ sich neben ihm nieder und überlegte, aus was sie einen stützenden Schuh basteln konnte.
Die Fahrt wurde jetzt wirklich schnell und der Wagen ruckelte nur so unter ihnen. Doch Adlinn hielt sich mit dem Tempo dennoch zurück, da sie Ellenas Kind nicht gefährden wollte. Bald hatten sie die schützenden Baumkronen erreicht und Bardos half seiner Schwester vom Wagen. Ellena sah sich um. Hier war alles trocken und sie würden wohl hier ausharren müssen, bis der Regen nachließ. Sie hatten es gerade so geschafft ohne wirklich nass zu werden.
Etwas irritiert sah Ellena Bardos nach. Königstiger? Was meinte Bardos damit? Sie verstand es wirklich nicht, somal ihr der Begriff Königstiger vollkommen fremd war. Aber sie machte sich auch keine weiteren Gedanken darum, sondern sah Adlinn nach, welche sich auf der Suche nach ihren Hunden in das Unterholz begab. Nun blieb Ellena allein mit Ban beim Wagen zurück.
Die junge Frau setzte sich auf einen der umgefallenen Baumstämme und beobachtete das Kleinkind, welche auf dem Waldboden herumkrabbelte und kleine Stöcke hortete. Ellena fühlte einen Stich in ihrem Herzen. Ihr Sohn könnte nun dort sitzen und mit dem kleinen Ban spielen. Warum war das Leben so ungerecht? Warum hatte Adlinn einen so wunderbaren kleinen Sohn und Ellenas Junge lag begraben auf den Feldern des Pelennors? Warum hatte sie nie einen liebenden Mann gefunden, sondern war immer an die falschen geraten, obwohl sie noch so jung war? Niemand hatte ihr in dieser schweren Zeit geholfen.
Ellena fühlte wie sich die Tränen ihren Weg über das Gesicht bahnten. Oder war es nur der Regen? Nein, sie waren hier unter einem geschützten Blätterdach. Schon bald war Bans Spiel hinter einem Schleier verborgen. Sie konnte nicht mehr ... sie wollte nicht mehr. Ellena stand auf und ging zum Wagen. Sie durchsuchte die Ladefläche, ohne dass sie überhaupt wusste, nach was sie suchte. Ein Messer? Ein Dolch? Doch nichts dergleichen fand sie auf Anhieb. Da fiel ihr ein dickes Seil auf, nach welchem sie Griff.
Allein im Wald
Noch einmal schaute Ellena in die Richtung, in welche Bardos verschwunden war. Ihre Lippen formten ein lautloses 'Danke'. Dann machte sie sich auf den Weg in den Wald. Ellena lief etwa 100 Meter in den Wald hinein, bis sie sich erschöpft auf einem Baumstumpf niederließ und die Tränen aus dem Gesicht wischte. Sie hatte versucht stark zu sein! Sie hatte kämpfen wollen! Doch ihre Seele war kaputt und ihr Herz schmerzte. Mühevoll kletterte Ellena auf den Baumstumpf, über welchem ein stabiler Ast ragte. Um den Ast schlang sie das Seil und knotete es straff. Dann bastelte sie sich eine Schlinge für den Kopf. Woher sie das konnte? Ellena hatte schon einige male auf Undars Hof so ein Seil in der Hand gehabt, aber nie hatte sie den Mut besessen.
Der Ast war etwa einen Meter vor dem Baumstumpf. Ellena würde sich einfach nur von jenigem gleiten lassen müssen. Nachdem sie die Schlinge um den Hals gelegt und festgezogen hatte, schaute sie gen Himmel, welcher von dem dichten Blätterdach verdeckt war. „Keine Angst mein Kleiner ...“, flüsterte Ellena. „Mama ist bald bei dir! Mama lässt dich nicht mehr allein!“ Dann schloss Ellena die Augen und ließ sich fallen.
Panisch riss sie die Augen auf. Solche Gefühle hatte sie nicht erwartet. Das Seil schnürte ihr die Luft ab, während ihre Füße zappelten. Egal wie sehr es ein Mensch wollte, der Körper besaß immer diese Reaktion. Die Hände gingen zum Hals und die Beine versuchten Halt zu finden. Doch da war keiner. Und Ellena fühlte wie sie schwächer wurde und die Luft aus ihren Lungen wich.
Plötzlich wurden die Hunde unruhig, und Adlinn kam schnell auf die Beine. Ruguls Pfote war fürs Erste vergessen, als die Hunde bellten und dann davonschossen. Adlinn verfluchte die Viecher und dachte sich, dass sie wohl wieder einen Hasen oder ein Reh aufgespürt hatte.
Sie wandte sich zum Lager und ging langsam den Weg zurück, den sie gekommen war, während sie mit den Schuhen die lose Erde und den Waldboden aufwühlte. Während sie gerade ein Lied zu pfeifen begann, sah sie ein ganzes Stück weiter rechts im Wald ein Stück Stoff blitzen und eine Bewegung. Nach dem Vorfall in den Dorf war sie auf Angriffe gefasst, pfiff nach den Hunden, und schoss dann auf den Menschen zu, den sie dort sah. Während sie lief, erkannte sie langsam aber sicher die Szene, die sich ihr bot, und begann aus Leibeskräften nach Bardos zu schreien.
Sie rannte so schnell sie konnte zu dem hängenden Körper, der wild mit den Füßen trat und ergriff ihn von unten um ihn hochzuheben. Doch Adlinn war klein und Ellena war schwer, es war kaum möglich, zu helfen.
»HERBEI, SO KOMM DOCH SCHNELL! « schrie sie und schob nach Leibeskräften. Die Hunde sprangen bellend um sie herum und wussten nicht, was sie tun sollten. »ICH KRIEG SIE NICHT HOCH! HILFE! «
›Es ist zu spät, oh Herr, es ist zu spät,‹dachte Adlinn verzweifelt und Tränen liefen ihr über das Gesicht, während sie sich verzweifelt abmühte. ›Und das Baby, wenn sie stirbt? ‹
Bald hatte sich Bardos erleichtert und seine Hose wieder verschnürrt. Es raschelte jedoch hoch oben in den Baumspitzen, so dass seine Aufmerksamkeit darauf gelenkt wurde und er noch nicht wieder zu den anderen ging. Gerade, als Bardos hoffen konnte das Tier zu sehen, hörte er Adlinns Schrei. Erschrocken zuckte er zusammen und lief ohne einen Moment zu zögern den Rufen nach.
An den Regen und an die Zweige der Büsche und Bäume, die ihm gegen Gesicht und Körper schlugen dachte er nicht. Adlinns Stimme klang schrecklich verzweifelt und Bardos bekam Angst. Hatte sie nicht Ellena gerufen?
Da sah Bardos was geschehen war: Seine Schwester hing an einem Seil, das um ihren Hals gewickelt war. Der junge Mann konnte es gar nicht glauben, doch nun kam ihm sein ehemaliger Beruf zu Gute: Er dachte nicht nach, sondern handelte sofort. Mit der rechten Hand zog er sein Schwert und rannte die letzten Meter zu den Frauen. Er hatte gesehen, dass das Seil zu hoch war, als dass Adlinn es mit dem Schwert durchschlagen konnte. Wobei er nicht sicher war, ob sie es überhaupt über ihrem Kopf schwingen konnte, denn sie war nur eine kleine Frau und das Schwert war lang und für eine Männerhand gemacht.
Mit einem Schlag durchtrennte Bardos das Seil, warf dann das Schwert weg, um Adlinn zu Hilfe zu eilen, auf die Ellena gefallen war. Er rollte Ellena von Adlinn herunter und zog kurzerhand eines seiner Wurfmesser. Damit durchtrennte er mit einiger Mühe das Seil in der Nähe von Ellenas rechtem Ohr, doch leider konnte er nicht verhindern, dass die Klinge auch ihren Hals verletzte.
Als das Seil endlich vom Hals ab war, begann Bardos ähnlich wie vor ein paar Tagen bei Miléndra, Luft in in die Lungen seiner Schwester zu pusten, während er zwischenzeitlich auch Druck auf ihr Herz ausübte. Endlich kam die junge Frau wieder zu sich. Bardos konnte sie nur kurz an sehen, dann ließ er sich nach hinten fallen, so dass er auf seinem Po saß, die Beine angewinkelt. Sein Atem ging schnell und seine Augen blickten erschrocken drein. Seine Gedanken überstürzten sich und ließen nicht zu, dass Bardos sich bewegte. Aber da war ja noch Alinn, die sich um Ellena kümmerte.
›Ich bin schuld‹, dachte Bardos immer wieder. ›Ich bin schuld.‹»Ich bin schuld«, sagte er auf einmal laut und blickte zu Adlinn.
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Nur wer seine Rechnungen nicht bezahlt, darf hoffen, im Gedächtnis der Kaufleute weiterzuleben. (Oscar Wilde)
Adlinn hörte mit Staunen zu, als Bardos sich die Schuld an dem Vorfall gab. Ihre Gedanken rasten, und ihr Blick fiel immer wieder auf Ellena, die noch sehr bleich war.
Sie hob die flache Hand und gebot Bardos energisch Einhalt: »Jetzt nicht. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, reiß dich zusammen. Ich brauche dich jetzt hier.« Dass sie ihn plötzlich dutze, fiel ihr in dieser furchtbaren Situation garnicht auf. Wenn Bardos jetzt durch Selbstvorwürfe den Kopf verlor, würden sie es nicht schaffen.
Sie schob die Hunde grob zur Seite und befahl ihnen, sich still hinzulegen. Sie fehlten hier jetzt noch als Unruhequelle. Dann schüttelte sie den Kopf, um sich zu konzentrieren. »Wir müssen ihren Kopf nach hinten betten, damit wir die Kehle kühlen können. Biege ihren Kopf vorsichtig nach hinten, pass auf, falls das Seil das Genick verletzt hat. « Dann sind wir sowieso verloren, dachte sie.
Bardos tat, wie sie ihn geheißen hatte. Dann riss sie einen breiten Streifen von ihrem Rock ab und knüllte ihn zusammen. »Wir brauchen kaltes Wasser, damit wir die Kehle kühlen können. Durch das Seil und den Druck wird alles anschwellen, dann erstickt sie uns noch. Ich hole gerade Wasser, pass du auf, dass sie atmen kann! «
Adlinn stand auf und lief los, so schnell sie konnte. Sie schoss an Ban vorbei, der immer noch Stöckchen stapelte und hielt den Kleiderfetzen in eine frische Pfütze, die sich gebildet hatte. Dann eilte sie zurück und legte Ellena den Stoff um die Kehle. Ellenas Hals war von einem dicken roten Wulst entstellt, der von einem Ohr zum anderen lief. Es sah schrecklich aus, und Adlinn machte sich ernsthafte Sorgen. Wenigesten schien ihr Genick nicht gebrochen zu sein.
Sie kniete wieder hin und sah dann Bardos an: »Wir tragen sie jetzt zum Wagen, du nimmst den Körper, ich stütze den Kopf. Das schaffen wir. « Sie sprach ihm Mut zu und sich selbst auch.
Vorher fühlte sie noch an Ellenas Bauch, und es schien, als ob das Kind noch lebte. Dann hoben sie zusammen Ellenas Körper hoch und trugen sie so vorsichtig wie möglich zum Wagen. Dann legten sie Ellena auf den Wagenrand und Adlinn räumte alles beiseite, was im Weg lag. So konnten sie Ellena bestmöglich betten. Dann öffnete Adlinn mit der einen Hand Ellenas Mund und fuhr mit einem Tuch, das sie in der Tasche gehabt hatte, hinein. Doch glücklicherweise hatte sich kein Schleim gesammelt, der Ellenas Atemwege blockieren konnte.
Als dies geschafft war, erlaubte sich Adlinn ein kurzes Aufatmen und merkte, dass sie stark schwitze unter all dem Druck.
Ellenas Gedanken drehten sich gerade nur um die Atemluft, welche nicht in ihre Lungen dringen konnte. Sie hatte es gewollt. Doch es war eine qualvolle Art zu sterben, die man niemandem wünschte. Sie hätte springen soll, anstatt sich vom Baum gleiten zu lassen. Dann wäre womöglich sofort ihr Genick gebrochen und sie hätte diese letzten Minuten nicht ertragen müssen.
Das Mädchen bekam noch mit, wie Adlinn schreiend angelaufen kam und sie an den Beinen packte. Doch dann wurde alles schwarz um sie herum und Ellena ließ sich treiben. Weg aus dieser Welt, Heim zu ihrem Sohn. Es war eine Erleichterung, als die Qualen aufhörten. ...
Ellena riss die Augen auf. Sie spürte die Lippen eines Mannes auf ihrem Mund. Es waren Bardos Lippen und er pumpte Luft in ihre Lunge. In Ellena krampfte sich alles zusammen, als sie mit einem mal tief und deutlich hörbar Luft holte. Das Mädchen hustete und atmete schnell um ihre Lunge wieder ausreichend zu belüften. Ihre Muskeln krampften, aber sie konnte sie nicht willentlich beruhigen.
Bardos Gesicht, welche sie gerade noch gesehen hatte, verschwand vor ihren Augen. Nein ... Warum war Adlinn gekommen? Sie hörte Adlinns Stimme, aber verstand nicht genau was sie mit Bardos besprach. Erst als Adlinn davon eilte blinzelte Ellena ihrem Bruder entgegen und formte mit ihren Lippen eine einzige Frage: „Warum?“ Doch das Wort wollte sich nicht richtig bilden und es kamen nur kratzende Geräusche aus ihrem Mund.
Irgendwann kam Adlinn zurück und Ellena seufzte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf, als sich das kühle Tuch um ihren geschundenen und wunden Hals legte. Doch schon bald wurde der Schmerz von einer angenehmen Kühle abgelöst.
Ellena wollte protestieren, als Bardos sie hoch hob. Sie war hochschwanger und musste ziemlich schwer sein. An das Kind hatte sie bisher gar nicht gedacht. Doch Ellena spürte, wie es sich leicht in ihr bewegte. Ellena ließ ihren Kopf, welcher leicht von Adlinn gestützt wurde, gegen Bardos Brust gleiten und suchte Schutz an der Schulter ihres Bruders.
Auf dem Wagen konnte es das Mädchen nicht verhindern, dass Adlinn, welche Erfahrung mit so etwas zu haben schien, ihr mit einem Tuch in den Mund fuhr. Nun fühlte sich alles ziemlich trocken an. Aber es war egal. Sie wusste nicht ob sie Adlinn und Bardos dankbar sein sollte. Schließlich hatten sie die Pläne des Mädchens durchkreuzt. Aber auch das war momentan egal. Ellena war einfach nur unheimlich müde.
Bardos bewunderte Adlinn, die nicht den Kopf verlor, sondern genau zu wissen schien, was man nun tun musste. Er selbst hatte noch nicht mit einem Selbstmörder zu tun gehabt. Ohne zu fragen, tat er, was Adlinn ihm befahl. Als er Ellena hochhob, war er erstaunt, dass sie so leicht war. Er hatte ein höheres Gewicht berechnet, doch sie wog kaum mehr als eine normale Frau. Wahrscheinlich hatte sie oft hungern müssen.
»Es wird alles gut, Liebes«, sagte Bardos leise zu ihr. »Alles gut. Ich bin doch da, Brunderei. Ich bin doch da!«
Bardos trug seine Schwester zum Wagen und legte sie vorsichtig hin. Behutsam strich Bardos über ihre Stirn und ihre Wange. Liebevoll war sein Blick, doch auch Angst und Sorge standen in seinen Augen.
»Nicht schlafen, Brunderei«, meinte Bardos. »Du musst wach bleiben! Liebes. Ich bin hier und passe auf dich auf! Vertrau mir! Ich habe dich so lieb, meine liebe kleine Schwester!«
Während Bardos die eine Hand Ellenas hielt, strich er weiterhin über ihr Gesicht. Sie war nun wach, auch wenn sie müde aussah. Doch Bardos dachte, dass es gewiss besser war, dass sie nicht schlief.
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Nur wer seine Rechnungen nicht bezahlt, darf hoffen, im Gedächtnis der Kaufleute weiterzuleben. (Oscar Wilde)
Adlinn war ihr eigener Atem so bewusst, als hätte sie eine geschwollene Kehle, durch die sie die Luft pressen müsste.
Vor ihrem inneren Auge sah sie wie in einer endlosen Schleife das kleine Mädchen, dass sie damals im Dorf am Fluss gefunden hatten, weil die spielenden Kinder sie weinend holen gekommen war. Sie war mit ihrem Bruder hingelaufen, und das hatten gesehen, dass das Mädchen einen Strang um den Hals hatte. Die Kinder riefen alle durcheinander, einigen weinten. Fesseln hätten sie gespielt, und das Mädchen hatte sich befreien wollen.
Auf jeden Fall war es ein schrecklicher Unfall, und Adlinn und ihr Bruder entfernten schnell das Seil vom Hals des leblosen Kindes. Es hatte einen dicken, roten Striemen an der Stelle, wo der Strick gesessen hatte und sein Kehlkopf sah seltsam deformiert aus. Es lebt noch, und Adlinn beatmete es. Doch noch während sie versuchten, es wiederzubeleben, hustete das Kind, zog quietschend die Luft ein und erstickte qualvoll, ohne dass sie ihm helfen konnten.
Nacher hatten sie festgestellt, dass es einen Schleimpfropf im Hals hatte und eine Schwellung, die es nicht atmen ließ.
Nur durch diesen schrecklichen Vorfall hatte Adlinn gewusst, was sie tun musste. Sonst wäre wohl auch Ellena gestorben.
Sie beobachtete, wie Bardos Ellena streichelte und versuchte, sie zurück ins Leben zu holen. Sie schien immer wiedr einzuschlafen oder ohnmächtig zu werden.
»Warum nennst du sie immer Brunderei?,« fragte sie ihn schließlich, griff nach dem nassen Tuch um Ellenas Hals und wischte dieser das Gesicht ab. Dann goß sie neues, kaltes Wasser aus der Trinkflasche im Wagen auf das Tuch und legte es um Ellenas Kehle zurück. Und beobachtete, wie diese langsam atmete, aber doch sicher und ohne Nebengeräusche die Luft einzog und ausstieß.
»Was zum Geier hat sie nur dazu getrieben, sich selbst und das Kind umbringen zu wollen?«
Ellena verstand nicht warum Bardos sie nicht schlafen ließ. Sie war doch so müde. Doch nachdem was sie getan hatte, wollte sie ihn nicht noch mehr kränken und versuchte wach zu bleiben und ruhig zu atmen. Das war gar nicht so einfach, aber Ellena schaffte es. Ihr Hals tat unheimlich weh, auch wenn das kühle Tuch von Adlinn ein wenig Erleichterung verschaffte.
Nun, da sie diese beiden jungen Menschen hier neben sich sah, welche besorgt auf sie blickten und leise miteinander sprachen, da schämte sich Ellena. Sie schämte sich so sehr. Wenn sie nur gestorben wäre, dann wäre alles egal gewesen. Dann müsste sie diese Blicke jetzt nicht ertragen und die Gefühle der Schuld. Innerlich wollte sie Adlinn verfluchen, weil sie sie gefunden hatte. Doch Ellena konnte es nicht.
Leise rollten ihr die Tränen über die Wange, während sie schwach Bardos Hand drückte. „Warum?“ hauchte das Mädchen noch einmal, in der Hoffnung dass ihr Bruder sie mittlerweile besser verstehen konnte.
Unentwegt streichelte Bardos seine Schwester und versuchte sie anzulächeln. Trotzdem war er sehr besorgt.
»Meine Schwester heißt Brunderei«, sagte Bardos zu Adlinn. »Aber nun … nun nennt sie sich Ellena. Ich weiß nicht warum …«
Bardos beugte sich zu seiner Schwester hinab und küsste sie auf die Stirn. Da hörte er ihr »Warum?« und blickte sie verwundert an. War es nicht an ihm, diese Frage zu stellen? »Liebes. Ich bin doch jetzt da! Ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe. Du darfst mich nicht einach wieder allein lassen. Ich brauche dich doch. Du bist alles, was ich noch habe!«, sagte Bardos aufgewühlt zu seiner Schwester.
Der Tod seiner Eltern war ihm damals nah gegangen, aber er hatte den Schmerz herunter geschluckt. Auch jetzt zeigten sich keine Tränen, denn Bardos war ein Mann, der nicht zum Weinen neigte.
»Bitte Brunderei! Tu das nie, nie wieder!«
Seine Augen blickten ernst in die ihren. Nach einer Weile wandte er sich wieder an Adlinn. »Sie ist doch nicht mehr in Gefahr, oder?« Adlinn hatte so viel Kenntnisse gezeigt, dass sich Bardos nun auf ihr Urteil verließ. »Ich weiß nicht, warum sie es getan hat«, sagte er noch leise zu ihr. »Aber dieser Bauer … Er hat sie …«
Nein, Bardos wollte es nicht jetzt vor seiner Schwester wiederholen. Adlinn hatte ihn ja schon auf dem Hof gefragt und wusste, dass Undar Ellena vergewaltigt und geschlagen hatte.
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Nur wer seine Rechnungen nicht bezahlt, darf hoffen, im Gedächtnis der Kaufleute weiterzuleben. (Oscar Wilde)
Adlinn wies ihn zu schweigen, als er von der Vergewaltigung sprach. Das hatte er ihr schon auf Undars Hof erklärt, und außerdem wollte sie Ellena, die sie Augen leicht geöffnet hatte, nicht aufregen.
›So, sie hieß früher also Brunderei und nennt sich nun anders. Herrje, das arme Mädchen. ‹
»Vielleicht solltest du doch lieber ein wenig ruhen«, meinte sie dann zu Ellena gebeugt und strich ihr über die Wange. Wir passen gut auf dich auf, versprochen.
Sie prüfte nochmal die Schwellung an Ellenas Hals, aber die schien nicht schlimmer geworden zu sein. Und da Ellena sprechen konnte, schien glücklicherweise nichts schlimm verletzt worden zu sein.
»Was hatte sie ein Glück im Unglück, «flüsterte sie Bardos zu. »Ich glaube, es geht ihr so gut wie möglich. « Dann musterte sie Bardos. Er sah nicht so aus, als würde ihn das alles sehr mitnehmen, aber er herzte seine Schwester immer wieder und wollte sie garnicht loslassen.
»Sollen wir sie ein wenig schlafen lassen und zu Ban setzen?,« fragte sie und breitete eine Decke aus ihrer Truhe über Ellena, damit diese nicht fror.