Bardos Stimme klang traurig und in seinem Gesicht stand sorge. Trotz der mitreisenden Rede bildeten sich keine Tränen in seinen Augen. Ganz anders als bei Ellena. Ihr tat es leid, dass er wegen ihr besorgt war und litt. Das hatte sie so nicht gewollt. Sie hatte das für sich tun wollen und dabei nicht dran gedacht, was sie anderen Menschen damit antat.
Seine bitte klangt fast flehend und Ellena versuchte seine Hand ein wenig fester zu drücken. Sie hatte den falschen Ort und den falschen Zeitpunkt für diese Tat gewählt. „Du … hättest mich gehen lassen sollen“, flüsterte Ellena leise. Ihre Stimme klang kratzig und heiser. Das sprechen tat nicht nur weh, sondern strengte auch an.
Zaghaft nickte sie, als Adlinn meinte sie solle sich ausruhen. Ja, Ellena war unheimlich müde. Aber sie wollte doch niemandem Umstände bereiten. Ihr Leben war nichts wert, daher sollte man sich nicht so bemühen.
Die Decke, welche Adlinn über Ellena ausbreitet, war wohlig warm. Zwar war es Sommer und auch nicht unbedingt kalt, aber es tat gut. Ellena fühlte sich unter der Decke behütet und sicher. Sachte strich die junge Frau über ihren Bauch. Momentan bewegte sich das Baby nicht. Es schlief wohl. Der Sauerstoffmangel war für das Ungeborene sicherlich auch nicht gerade gesund gewesen.
Bardos musste hart schlucken, als er Ellenas Antwort hörte. Sie wollte noch immer sterben. Ein gemeinsames Leben mit Bardos war ihr offensichtlich nicht lebenswert genug. Das traf ihn sehr hart. Deshalb nickte er nur und ging vom Wagen weg, während Adlinn seine Schwester noch zu deckte.
Ban krabbelte munter durch die Bäume und hatte mit seinem Leibchen einen Zweig mitgezogen, der ihn störte. Vergeblich versuchte er mit seinen kleinen Fingerchen den Zweig zu entfernen. Gedankenverloren ging Bardos zu Ban und half ihm. Er setzte sich zu ihm auf den Boden und blickte ihn an. Ban hingegen war sehr dankbar, dass der Zweig nun weg war. Denn nun konnte er wieder nach Herzenslust den Wald erforschen. Wie zum Beispiel den schwarzen Totengräber, der sich über Zweige und Blätter des Vorjahres kämpfte. Gerade, als er den Käfer zwischen seine Finger nehmen wollte, hob ihn Bardos hoch und drückte ihn an sich.
»Warum tut sie das nur?«, fragte Bardos leise den Jungen. »Ich möchte doch für sie da sein. Sie beschützen! Ihr ein gutes Leben bieten. Was mache ich nur falsch?«
Ban schien das ganze eher weniger zu interessieren. Stattdessen begann er damit ein altes Blatt in Bardos schwarze Locken zu stecken, was gar nicht so leicht war, weil das Blatt immer wieder hinausrutschte. Doch der kleine Mann gab nicht so leicht auf.
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Nur wer seine Rechnungen nicht bezahlt, darf hoffen, im Gedächtnis der Kaufleute weiterzuleben. (Oscar Wilde)
Adlinn deckte Ellena gründlich zu und konnte fast zusehen, wie dieser die Augen zufielen.
Dann folgte sie Bardos zu den Baumstämmen, sie wollte sich auch setzen und fühlte sich ein wenig schwach in den Knien.
Bardos hatte Ban zu sich genommen, und der kleine Mann versuchte voll Eifer, ein trockenes Blatt erst in Bardos Haare, dann in Bardos Nase zu stecken. Adlinn griff deshalb nach Ban, ließ es dann aber, weil Bardos sich selbst zu helfen schien. Trotzdem setzte sie sich dicht neben ihn, um im Notfall weitere Übergriffe von Ban zu verhindern. » Ich weiß nicht genau, wie wir jetzt weitermachen sollen,« seufzte sie dann. »Sollen wir in ein Dorf fahren und dort Zimmer in einem Gasthof mieten, bis sie wieder gesund ist? Oder.... .«
Sie verstummte aus Mangel an Alternativen. Dann legte sie Bardos die Hand aufs Knie und sah ihn an: »Es tut mir so unendlich leid.«
Die Nähe von Ban tat Bardos gut. Der Kleine Junge war so unbeschwert und kümmerte sich nicht um den Kummer, den das Leben so mit sich brachte. Für ihn zählte einzig allein das Spiel und der Spaß. Als er Bardos jedoch das Blatt in die Nase stecken wollte, hinderte ihn Bardos daran. In seine große Hand passte die kleine Hand Bans zig mal hinein.
Bardos merkte, wie Adlinn sich dicht neben ihn setzte, was ihn sofort einengte. Als sie dann noch ihre Hand auf sein Bein legte, erstarrte er innerlich. Für die Annäherungsversuche einer einsamen Frau hatte er gerade überhaupt keinen Sinn. So unauffällig wie möglich rutschte Bardos ein Stückchen weiter weg und setzte Bardos auf das Bein, wo noch immer Adlinns Hand lag. Notgedrungen musste die Frau die Hand so wegziehen.
»Ich danke Euch für Eure Anteilnahme«, sagte Bardos nun. »Ich … Ohne Euch wäre meine Schwester nun … Ich stehe für immer in Eurer Schuld!«
Diese Worte meinte Bardos durchaus sehr ernst. Sollte Adlinn je in Schwierigkeiten kommen oder seine Hilfe benötigen, so würde er nicht zögern und ihr helfen.
»Meint Ihr, dass Brunderei nicht weiter reisen kann? … Ich glaube nicht, dass es ihr viel bringt, wenn wir uns in irgendeinem dieser gottverlassenen Dörfer zurückziehen. Vielmehr möchte ich sie nach hause bringen - oder wenn sie sich sträubt wenigstens auf den Pelennor. Dort ist unsere Heimat und nicht hier … Hier, wo sie so viel erdulden musste.«
Bardos Blick war auf Ban gerichtet, der nun mit dem Blatt auf Bardos Arm spielte und es in den Falten des Hemdes zu verstecken versuchte. Dieser kleine unbeschwerte Mensch war der einzige Lichtblick, den Bardos gerade hatte.
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Adlinn nahm ihre Hand weg, als Bardos Ban auf sein Knie setzte. »Trost und Anteilnahme will er also nicht«, dachte sie. ›Nein...wahrscheinlich hat er dich missverstanden und hält dich jetzt für eine Schlampe, die ihn in dieser schlimmen Stunde umgarnen möchte!‹
Sie rückte ebenfalls ab und ärgerte sich. ›Das ist so typisch für Männer! Man meint es gut, und sie nehmen sich Freiheiten heraus oder sie diskreditieren deinen Ruf!‹ Kurz überlegte sie, ob sie ihn allein lassen sollte und griff dann nach Ban. Sie hob ihn hoch und meinte dann: »Ich denke, dass wir losfahren sollten, sobald der Regen nachgelassen hat. Sicher kann sie reisen, und ich denke auch, je eher wir in Minas Tirith sind, desto besser.« ›Und desto eher bin ich diese seltsame Reisegemeinschaft wieder los, ‹ergänzte sie im Kopf. ›Die arme Frau will sich erhängen und somit das arme ungeborene Kind töten und aus dem Mann werde ich einfach nicht schlau - mal kokettiert er, hilft dir in der Not und dann rückt er ab und spielt den Unnahbaren. Wer soll denn daraus klug werden!‹
Ban gefiel es garnicht, von Bardos weggerissen zu werden, zumal sein Blatt auf Bardos' Hemd hängengeblieben war. Er begann zu protestieren und begann mit allen vier Gliedmaßen zu rudern, so dass er Adlinn ins Gesicht traf und in den Bauch trat.
»So hör' doch auf, du Satansbraten!«, rief Adlinn wütend und setzte Ban dann auf den Boden, weil er sich nicht mehr bändigen ließ. »Na bitte, dann mach doch, was du willst!« Sie pfiff und prompt schossen die Hunde herbei, die sie dann bei Ban ließ. Sie waren gewohnt, ihn zu behüten. Dann drehte sich um und stapfte durch die alten Blätter am Wagen vorbei und bis an den Rand der Bäume, wo sie in den dichten Regen starrte.
›Diese Reise hatte ich mir beileibe anders vorgestellt!‹
Recht war es Bardos nicht, dass Adlinn ihm den Jungen wegnahm, aber sie konnte es ihr auch nicht verwehren. Schließlich war er ihr Sohn und nicht seiner. Aber etwas schadenfroh war er doch, als er sah, dass auch Ban davon nicht begeistert war. Er strampelte wie verrückt und wollte zu Bardos zurück, so dass seine Mutter furchtbar wütend wurde.
Skeptisch blickte Bardos Adlinn nach. Dann wandte er sich an Ban und strich ihm über den Kopf: »Frauen!«, meinte er und verdrehte die Augen. »Siehst du: Du musst es auch schon in deinem Alter merken! Die sind unfassbar! Schwierig. Ein Mann sollte die Finger von ihnen lassen!«
Bardos nickte bestätigend und schaute in Bans Gesicht, das nun wieder lächelte. Seine kleinen Ärmchen reckten sich nach ihm und Bardos konnte nicht widerstehen und nahm ihn wieder auf seinen Schoß. Die beiden Hunde hoben angespannt den Kopf, aber da Ban nicht protestierte, sondern glückselig gluckste, legten sie sich wieder beruhigt hin.
»Na du bekommst deine Mama bestimmt gleich wieder herum, wenn du sie so anlächelst!«, grinste Bardos und ließ es sich gefallen, dass Ban über sein unrasiertes Kinn strich. »Bist du einen Bart bekommst, dauert es aber noch ein wenig.«
Nachdenklich blickte Bardos den kleinen Jungen auf seinen Beinen an. Bisher war er Kindern noch nie so nah gekommen. Freunde hatte er nicht mehr viele und Frauen aus Minas Tirith würden ihm gewiss nicht ihr Kind anvertrauen. Aber schlecht fühlte es sich nicht an, so ein kleiner Mensch. Vielleicht es gar nicht so gefahrvoll und anstrengend, wie er immer gedacht hatte. Ban zumindest war eigentlich ganz amüsant. Bald würde er mit Ellena auch einen kleinen Menschen im Haus hatte.
›Ellena‹, dachte Bardos und blickte unwillkürlich zum Wagen. »Wie soll ich nun weiter machen?«, fragte Bardos Ban. »Sie braucht meine Hilfe. Aber wird sie sich von mir helfen lassen?« Bardos seufzte tief. »Kannst du sie nicht überzeugen, dass es sich lohnt weiter zu leben? Dass die Welt so schön sein kann! Ein Lächeln von dir müsste doch genügen!«
Doch Ban konzentrierte sich noch immer auf Bardos Bartstoppeln und brabbelte angestrengt vor sich hin.
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Ellena waren sofort die Augen zugefallen und sie war vor Erschöpfung eingeschlafen, als Adlinn und Bardos den Wagen verlassen hatten. Sie hatte ihrem Körper viel zugemutet und Adlinn war wirklich gerade noch rechtzeitig gekommen. Nur kurze Zeit später hätte man das Mädchen vielleicht nicht mehr retten können. Doch sie wurde gefunden. Bardos hatte sie zurück ins Leben geholt und nun musste sie damit umgehen können. Irgendwie.
Das Mädchen hatte gar nicht lange geschlafen, da wachte sie wieder auf, geplagt von einem Hustenreiz. Ellena führte die geballte Faust zum Mund und versuchte den Reiz zu unterdrücken. Sie rollte sich auf die Seite, zog die Knie ein wenig an und versuchte sich zu entspannen. Doch der trockene Husten, welcher sie gerade quälte, ließ dies nicht zu.
Adlinn blickte trübsinnig in den andauernden Regen hinaus. Sie hielt die Arme verschränkt und trommelte mit den Fingern auf ihren Arm, außerdem kaute sie auf ihrer Unterlippe. ›Wollte der Regen denn garnicht aufhören!‹ Sie wollte weiter und endlich ankommen.
Dann hörte sie Ellena husten udn drehte sich sofort um, um nach ihr zu sehen. Wenn sie schon wieder wach war, hatte sie nicht lange schlafen können, und Adlinn griff am Wagen nach der Flasche mit dem Wasser.
Seltsamerweise fand sie sie nicht an ihrem Platz, deshalb war sie gezwungen, sich tiefer zu bücken um in die Truhe zu blicken, die auf dem Boden stand. ›Ah, da ist sie ja!‹ Die Flasche war ganz nach unten gerutscht. Dann richtete sich Adlinn mit Schwung auf, um der husteten Ellena Wasser zu reichen. Dass Bardos sich auch dem Wagen genähert hatte, war ihr durch das Kramen in der Kiste entgangen, und so kam es, dass sie beim Aufrichten mit ihrem Kopf gegen den von Bardos stieß, der sich runtergeneigt hatte, wohl, um zu sehen, was sie suchte.
Es gab einen Laut, als hätte man faules Obst aneinandergeschlagen, und Adlinn sah kurzzeitig Sterne, während sie rückwärtes taumelte. Sie fühlte sich, als wäre ihr Schädel gespalten und sie rieb sich den Hinterkopf, auf dem es wohl eine Beule in der Größe von Minas Tirith geben würde. Dann sah sie Bardos an, die Trinkflasche immer noch in der Hand.
Der kleine Mann auf seinen Beinen begann nun in seine Nase zu kneifen. Als Ban jedoch versuchte seine Nasenhaare näher zu untersuchen und rauszuziehen, nahm Bardos dessen kleine Hände in die seinen.
»Du solltest Folterknecht bei Denethor werden!«, meinte Bardos und blickte den Jungen streng an. Doch bald grinste er wieder, denn auch Bardos gluckste fröhlich vor sich hin. »Ach, du bist viel zu schade für …«
Bardos wurde plötzlich aufmerksam: Ellena schien zu husten. Besorgt blickte der junge Mann zum Wagen und setzte dann Ban auf den Boden. Den Hunden gab er noch den Auftrag auf den Kleinen zu achten. Dann lief er zum Wagen.
Beim Wagen
Gerade wollte er seine Schwester fragen, was los sei, als etwas mit voller Wucht gegen seine Stirn prallte.
»Ahhh«, entfuhr es Bardos und er fasste sich stöhnend an die Stirn. Er hatte das Gefühl, dass sein Kopf zerspringen würde. Dann blickte er in Adlinns grüne Augen, die von einer ebenso schmerzzerfurchten Stirn umwölbt waren.
»Bei Euch braucht man ja einen Helm …«, meinte er und kurz darauf musste er herzlich lachen. Auch Adlinn stimmte ein und schließlich ging Bardos um die kleine Frau herum und schaute sich ihre Beule an. Dann zog er seinen Dolch aus der Scheide und drückte ihn mit einiger Kraft auf die Beule.
»Drückt es so fest Ihr könnt«, empfahl Bardos der jungen Mutter. Dann zog er sein Schwert und drückte seine eigene Stirn gegen den kalten Stahl. Abermals musste Bardos lachen, denn nun sahen sie beide ziemlich albern aus.
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Adlinn zog den Kopf ein, als Bardos mit dem Dolch gegen die Beule drückte. Es schmerzte natürlich, und fast wollte sie aus der Haut fahren und ihn anraunzen, als sie sah, wie er sein Schwert gegen die Stirn drückte und herzlich lachte.
Es stimmt, wir sehen aus wie die Idioten, so wie wir hier herumstehen und uns das Eisen an den Kopf drücken, dachte sie. Also lachte sie auch.
Dann reichte sie Ellena mit der freien Hand die Wasserflasche, damit diese endlich von ihrem Husten befreit wurde.
Es tat gut, nach dem Grauen der letzten Stunde, zu lachen, auch wenn es nur über etwas Oberflächliches war und die Situation nicht wirklich entspannte.
Dann drehte sie sich ganz zu Ellena um und wollte sie gerade fragen, wie sie sich fühlte, als sie bei einem Blick am Wagen vorbei sehen konnte, dass beide Hunde dicht bei Ban standen und ihm das Gesicht ableckten. »Ihr Dreckschweine, lasst das!«, rief sie deshalb und lief eilig am Wagen vorbei und auf das Trio zu. Den Dolch hatte sie dabei von ihrem Kopf genommen und hielt ihn wie eine Waffe in der Hand. Wäre ihr Feind menschlich gewesen und hätte nicht aus zwei Hunden und einem Baby bestanden, so hätte er sich wahrscheinlich in Sicherheit gebracht. Dann warf sie den Dolch zu Boden, wo er stecken blieb.
Als Adlinn nach Ban griff und ihn aus dem Konvolut aus Fell herauszog, erkennte sie, was die Hunde so fasziniert hatte. Ban hatte unter irgendwelchem Laub einen shcwarzen Mistkäfer gefunden, den er sich prompt in dem Mund geschoben hatte. Die Hunde hatten wohl geglaubt, einen Leckerbissen zu verpassen und versucht, ihren Anteil dadurch abzubekommen, dass sie Bans Gesicht ableckten.
»Igitt, wie eklig, «schimpfte Adlinn und wischte Ban das Gesicht mit ihrem Rock ab. »Ihr seid ja alle total verdorben, alle drei!« Dann zwang sie Ban unter Widerstand den Mund zu öffen und den Rest des Käfers auszuspucken. Ob er noch lebte, wollte sie garnicht so genau wissen.
Dann seufzte sie, setzte sich Ban auf die Hüfte und beschloss, trotz Regen für ein Weiterfahren zu plädieren, nur, um diesen unheiligen Ort zu verlassen. Schnell zog sie noch den Dolch aus der Erde und wischte ihn auch am Rock ab, der mitterweile schon seine unsauberen Stellen abbekommen hatte.
Bardos drückte das Schwert kraftvoll gegen seine Stirn, bis er merkte, dass Adlinn mal wieder wütend wurde. Diesmal war Ban ihr Opfer.
›Lächel sie an, Kleiner‹, rief er Ban in Gedanken zu. ›Das funktioniert bestimmt.‹
Bardos drehte sich wieder zu seiner Schwester um, die sich zum Trinken aufgesetzt hatte. »Der Kleine ist eine Wucht!«, meinte Bardos begeistert zu seiner Schwester. »Vielleicht sind Kinder gar nicht so schlimm, wie ich immer dachte!«
Er schenkte seiner Schwester ein Lächeln und erfasste ihre Hand.
»Versprich mir, dass du so etwas nie wieder machst!«, sagte er ernst. »Ich bin doch für dich da! Ich werde dir helfen und dir immer zur Seite stehen. Bitte! Vertrau mir doch wieder! … Glaubst du mir nicht, dass ich dich schmerzlich vermisst habe?«
Traurig blickte Bardos seine Schwester an, die er sehr liebte.
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Ellena bekam zwar irgendwie mit, dass neben dem Wagen ein kleiner Tumult herrschte, aber so sehr interessierte es sie gerade nicht. Sie war viel mehr damit beschäftigt den Husten zu unterdrücken, so dass sie nicht mitbekam, dass Ban einen Käfer aß oder sich die beiden Erwachsenen die Köpfe gestoßen hatten.
Erst als Adlinn ihr eine Wasserflasche reichte sah Ellena auf und griff zage danach. Nun war da auch Bardos und Ellena richtete sich langsam zum Sitzen auf. Er schwärmte mal wieder von Ban. Nein, früher hatte Bardos Kinder nicht so sehr gemocht, wie es jetzt den Anschein hatte.
Als er nun ihre Hand griff, wäre Ellena beinahe wieder in Tränen ausgebrochen. Seine Worte schmerzten. Das hatte sie nicht gewollt. Ellena hatte nur an sich gedacht und an das Leben, welches sie nicht mehr wollte. Was sie anderen Menschen damit antat, daran hatte sie nicht gedacht. Und sie wollte nicht, dass ihr Bruder wegen ihr litt.
„Ich wollte nicht ...“, flüsterte das Mädchen heiser. „Ich liebe dich!“ Die Tränen drängten ihr Kleid, aber Ellena ließ sie gewähren. „Hältst ... hältst du mich ein wenig?“ fragte sie nun leise. Sie wusste nicht ob sie Bardos darum bitten durfte. Aber sie wollte es so sehr.
Die Wasserflasche lag noch unberührt auf ihrem Schoß. Ellena fürchtete sich ein wenig davor zu trinken, da ihr Hals ohnehin schon so weh tat.
Ein liebevolles Lächeln stahl sich auf Bardos Gesicht und er sagte nur leise: »Natürlich …«
Dann sprang er geschickt auf den Wagen und setzte sich hinter Ellena. Von da aus schlang er seine Arme um den Körper seiner Schwester und zog sie an sich heran. Dabei küssten seine Lippen ihre Haar. Er wiegte seine Schwester sanft in seinen Armen und genoss ihre Nähe ebenso wie sie seine.
Eine Weile saßen sie ohne ein Wort zu sprechen da. Dann sagte Bardos: »Alles wird gut werden, Liebes! Alles wird gut werden.«
Mehr sagte er nicht und er wiegte seine Schwester weiter in seinen Armen. Sein Blick wanderte über den Rand des Wagens zu Adlinn, die stehen geblieben war und mit Ban auf dem Arm die beiden Geschwister beobachtete. Bardos schenkte ihr ein warmes Lächeln.
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Adlinn blieb stehen, als sie beobachtete, wie die Geschwister scheinbar wieder zusammenfanden. Ellena hatte aufgehört zu husten und schien sich gesundheitlich zumindest nicht schlechter zu gehen als zuvor.
Sie hatte Ban auf der Hüfte sitzen, damit der nicht noch ein Insekt aufsammelte und in den Mund steckte. Sie musterte dann den Waldrand. Der Regen hatte sich deutlich abgeschwächt und es nieselte nur noch leicht.
Dann trat sie langsam an den Wagen heran. »Es regnet nicht mehr so stark wie vorher,« sagte sie dann und erwiderte Bardos' Lächeln. »Wir könnte eine Decke über den Wagen spannen und uns wieder auf den Weg machen, oder? Je schneller wir in Minas Tirith ankommen, desto besser, oder?«
Ellena lies ihren Körper gegen Bardos starke Brust sinken, als dieser ihr dies anbot. Das Mädchen sog den so lange vermissten Duft ihres Bruders ein. Sie war so froh, dass Bardos sie wegen der ganzen Angelegenheit nicht verstieß. Auch wenn sie es zuvor nicht zugeben wollte, aber das Mädchen brauchte Bardos.
Aber konnte sie es ihm verübeln, wenn er nun böse mit ihr war? Schließlich hatte sie versucht sich und dem Baby das Leben zu nehmen. Das musste sicher auch Bardos erstmal verarbeiten. Und sie selbst schämte sich so sehr. Was musste auch Adlinn von ihr denken? Ellena hatte der Älteren ja noch nicht einmal gedankt, dass sie so schnell zur Stelle war. Wieso auch? Adlinn hatte sich in etwas eingemischt, was sie nichts anging. Schließlich war dies Ellenas Leben, wenn man das so nennen wollte.
Als Adlinn dann angab man könnte wegen des schwächer werdenden Regens ja weiterfahren nickte Ellena nur und lehnte sich noch ein wenig mehr an Bardos. Er sollte nicht schon wieder gehen. Dass sie ja gar nicht nach Minas Tirith wollte, wiederholte das Mädchen nicht. Sie hatte schon genug schlechte Stimmung verbreitet.
Nun öffnete Ellena doch zögernd die Wasserflasche, welche Adlinn ihr gegeben hatte, da sie schon wieder das Gefühl hatte gleich loshusten zu müssen. Ihr Hals kratze und das war mehr als unangenehm. Doch als Ellena den ersten Schluck getrunken hatte, bereute sie es sofort wieder. Das Schlucken schmerzte unheimlich. "Es tut weh ...", sagte das Mädchen leise zu ihrem Bruder und legte die nun wieder verschlossene Wasserflasche in Bardos Hand.
Behutsam strich Bardos weiter über Ellenas Haar und Arme, während er zu Adlinn blickte. Sie schien nicht mehr böse auf ihn zu sein oder auf Ban. So richtig wusste Bardos nicht, was Adlinn vorhin gehabt hatte. Aber um so besser, wenn es aus der Welt war.
»Ja«, antwortete Bardos, »Wir sollten weiterfahren. Es ist ja noch weit bis Minas Tirith.«
Seine Schwester lehnte sich noch immer an ihn und er spürte, dass sie seine Nähe noch brauchte. »Wir sollten deinen Hals kühlen, oder?« Bardos blickte Adlinn an. Sie hatte vorhin so gut Bescheid gewusst.
»Ich würde dann Thalion hier an den Wagen binden und noch ein wenig bei Brund… Ellena sitzen. Ich hoffe, das stört Euch nicht, Adlinn. Ich helfe Euch natürlich vorher die Decke über den Wagen zu spannen.«
Wieder schenkte er Adlinn ein Lächeln. Er verlangte, nach seinem Gefühl immer nur von Adlinn, während er ihr so wenig gutes Tat. ›Vielleicht kann ich mich heute Nacht revangieren!‹, dachte er und errötete kaum einen Moment später. ›Wenn sie das jetzt gehört hätte, würde sie bestimmt sonst etwas von mir denken …‹
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Adlinn nickte und blickte dann nochmal prüfend zum Himmel.
»Ich glaube, wir brauchen die Plane garnicht mehr, es hat nach und nach aufgehört zu regnen. Bleibt ruhig sitzen, ich steuere den Wagen schon«, antwortete sie dann auf Bardos Frage hin.
Sie setzte Ban wieder in sein Körbchen auf dem Wagen, band ihn fest und reichte ihm zwei neue Blätter, damit er nicht zu quäken begann und etwas zu spielen hatte. Dann ging sie zu Thalion, der in der Nähe an einen Ast gebunden war. Sie sprach ruhig mit ihm, und da das Pferd wusste, dass Bardos in der Nähe war, ließ es sich friedlich von ihr zum Wagen führen und hinten anbinden. Adlinn musste schmunzeln, weil sie es einen seltsamen Anblick fand, dass ein so stolzes Ross hinter einen schäbigen Bauernwagen herzuckeln sollte. Glücklicherweise besaßen Pferde keinen Stolz.
Dann schwang sie sich auf den Wagen und blickte nocheinmal zu Bardos und Ellena. Sie schien ein wenig Ruhe gefunden zu haben, während sie ihren Bruder im Arm hielt. Adlinn hoffte, dass dies ihr und dem ungeborenen Baby gut tat.
Dann schnalzte sie mit der Zunge und trieb die Pferde an. Thalion ging friedfertig mit, als der Wagen anfuhr. Dann waren sie bald wieder auf der Straße, und Adlinn beobachtete mit Staunen, wie der wolkige Himmel aufriss und die Sonne mit Macht durchbrach. Die Sonnenstrahlen waren als helle Streifen sichtbar. Es waren Momente, die ihr die Sprache verschlugen.
Auch Bardos wollte zügig weiterfahren. Sie alle waren wohl froh, wenn sie diesen unheilvollen Ort hinter sich lassen konnten. Nur Ban hatte von der ganzen Aufregung nichts mitbekommen. Ob Adlinn Ellena auch übel nahm, dass sie den kleinen Jungen unbeaufsichtigt beim Wagen gelassen hatte, während sie und Bardos im Wald waren? Aber darüber sollte sich Ellena jetzt keine Gedanken machen. Sie wusste, sie würde viel erklären müssen. Aber sie wollte es nicht, denn keiner würde sie und ihre Gefühle verstehen.
Doch momentan genoss das junge Mädchen nur die Nähe ihres Bruders, welcher so lange Zeit aus ihrem Leben verschwunden war. Auf seine Frage mit dem Kühlen des Halses kam nur ein „Mh“ aus ihrem Mund. Es war ihr eigentlich egal. Sie wollte nur, dass das Schlucken nicht mehr so weh tat. Sie würde heute keinen Bissen mehr hinunter bekommen, wenn dies so blieb.
Als Adlinn Thalion an den Wagen gebunden und selbst mit Ban auf dem Kutschbock Platz genommen hatte, ruckelte der Wagen endlich wieder los. Der Regen hatte mittlerweile gänzlich aufgehört und es bahnten sich sogar wieder Sonnenstrahlen ihren Weg durch die Wolken. Ellena spürte die wärme der Sonne auf ihrem Gesicht und sah zum Himmel, welcher aufklarte. War dies ein Zeichen, dass sie all die dunklen Gedanken hinter sich lassen sollte? Ein Licht am Horizont, welches sie umarmen wollte?
Ellena kuschelte sich an Bardos, welcher hinter ihr saß, die Arme um ihren Körper geschlungen. Müde und erschöpft schloss sie die Augen, während sie Bardos Atmung lauschte. Es dauerte nicht lange und Ellena war in den Armen ihres Bruders wieder eingeschlafen.
Es war ein schönes Gefühl, seine Schwester wieder gefunden zu haben. Vor ein paar Tagen hätte er es sich nicht zu träumen gewagt. Liebevoll strich Bardos über Ellenas Gesicht und erinnerte sich an die vielen gemeinsamen Momente, die sie als Kinder verbracht hatten. Sie waren sich beide sehr zu getan gewesen und Bardos war in der Beschützerrolle des großen Bruders wahrlich aufgegangen.
Der junge Mann begann eine Melodie zu summen. Sie gehörte zu einem Lied über einen Prinzen und eine Prinzessin, die zueinander fanden. Ellena und er hatten dieses Lied des öfteren nachgespielt, weil Ellena das so gern tat. Ihm selbst war das später lästig geworden, als er ein junger Mann wurde. Er war froh gewesen, dass er den Dienst des Soldaten antreten durfte und somit um dieses peinliche Spiel kam.
Doch heute würde er liebend gern wieder die Rolle des Prinzen für seine Schwester spielen, auch wenn er sich einen guten Ehemann für seine Schwester wünschte. Aber wer weiß, wann er diesen für sie finden würde. Bis dahin würde er auf seine Schwester aufpassen, damit ihr nichts geschah.
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Adlinn stimmte pfeifend mit ein, als sie Bardos summen hörte. Sie kannte das Lied und hatte es auch schon Ban vorgesungen.
Sie hatten schon eine ganze Strecke zurückgelegt, als Adlinn in der Ferne einen dunklen Punkt ausmachte. Sie behielt ihn im Auge, sagte aber noch nichts. Vielleicht war es nur ein anderer Wagen oder ein Stamm, der auf den Weg gefallen war. Doch je näher sie kamen, desto deutlicher konnte Adlinn erkennen, dass der dunkle Punkt unförmig war und hin und her zu schwanken schien.
Mit einem Blick nach hinten erkannte sie, dass die beiden noch nichts bemerkt hatten, und Gul und Rugul trotteten noch hinter dem Wagen her. Die Pfote des verletzten Hundes schien sich gebessert zu haben, vielleicht hatte die Pause ihr gut getan.
Noch wenige Meter, und Adlinn erkannte, dass es nur ein Wagen war, aber ein ungewöhnlicher. Er war bis weit über die Seitenbande beladen und bot den Eindruck eines überfrachteten Tieres. Die Wagenräder bogen sich scheinbar unter der unförmigen Last. Ganz oben drauf konnte Adlinn ein Wagenrad erkennen, das lose festgezurrt war, darunter eine Art Stand und Unmengen an Zeug. Außerdem zog der Wagen eine deftige Duftspur hinter sich her, scheinbar führten sie Tiere mit sich. Dreckige Tiere. »Ein Händler«, dachte sich Adlinn. Diese Sorte seltsamer Menschen kannte sich schon.
Da der Wagen nur von einem einzigen, scheinbar kümmerlichen Tier gezogen wurde, würde Adlinns Wagen ihn bald erreicht haben. Schon jetzt hörte sie, dass der Mann, der den Wagen fuhr, laut und falsch sang. Unauffällig würden sie ihn nicht überholen können, der Wagen fuhr mal hier, mal dort und vermied jede klare Linie. Sicher würde der Händler sie nicht ohne Schwatz durchlassen wollen.
Sie zügelte die Pferde und wandte sich nach hinten. »Ich hoffe für Euch, Ihr habt auf ein wenig Abwechslung gewartet - wir kriegen sie nämlich gerade. Ein Händler ist vor uns und sicher wird er sich für uns interessieren!«
Gedankenversunken streichelte Bardos seine Schwester. Er dachte darüber nach, wie sich wohl nun sein Leben ändern würde. Dass er nicht mehr saufend durch die Wirtshäuser ziehen könnte, war weniger schlimm. Aber die Verantwortung für Ellena würde wohl schwerer sein, als er dachte.
›Wenn sie nun wieder versucht sich das Leben zu nehmen‹, grübelte er. ›Und dann noch das Kind. Wer weiß, wie das wird. Solange es nicht nach diesem Bastard von Bauern kommt, ist alles in Ordnung …‹
Wie sicher konnte man sich jedoch sein, dass dieses böse Blut nicht durchkam. Bardos schüttelte den Kopf und drückte seine Schwester etwas dichter an sich. ›Wir schaffen das schon, Brunderei. Wir schaffen das!‹
Da holte ihn Adlinn mit ihrem Ruf aus seinen Gedanken. Bardos reckte seinen Kopf etwas, aber er konnte nicht über den Webstuhl schauen. Er gab den Versuch auf, einen Blick auf den Händler zu erwischen. Ihn interessierte der Mann sowieso nicht. Er hatte alles, was er brauchte.
»Fahren wir einfach vorbei«, meine Bardos zu Adlinn und zog die Decke über seiner Schwester gerade.
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Adlinn trieb die Pferde ein wenig an. Sie wäre auch am liebsten schnell vorübergefahren. Erfahrungsgemäß waren diese Art Händler betrunken, singfreudig und immer ein wenig zu überschwänglich. Schnell war einem mal ein Kuss aufgedrückt oder eine Hand an den Hintern gefahren.
Ihre Pferde trabten munter an, und sie passierten den schwankenden Wagen. Ein Blick zu dem Händler zeigte Adlinn, dass sie mit ihrer Einschätzung recht gehabt hatte. Der Mann war hochgradig schmutzig, trug einen gezwirbelten Schnurrbart und einen schiefen, speckigen Hut. In der einen Hand hielt er eine Flasche Wein, die halb leer war, in der anderen eine kleine Katze. Eine zweite Katze, wahrscheindlich das Muttertier, saß auf seinem Schoß. Die Zügel des Esels hielt er gar nicht.
Diese ungewöhliche Freiheit war es wohl auch, die den dicklichen Esel bewog, in den Trab der Pferde einzufallen. Der heftige Ruck, der dabei durch den Wagen des Händlers ging, ließ seine Ware gefährlich wackeln und erschreckte die zwei Katzen so, dass diese fauchend das Weite suchten. Das Jungtier sprang mit Schwung auf Adlinns Wagen und verschwand blitzschnell hinten bei Bardos und Ellena.
»Halt halt, junge Dame«, rief der dicke Händler und winkte mit der Weinflasche. »Lasst mir die Katze, nehmt lieber die Ziege hier!«
Adlinn bremste die Pferde, und der Esel, der wieder mithielt, bremste auch. Der schlecht befestigte Wagen rollte weiter, drückte das Tier beiseite und die Wagen krachten seitlich aneinander und kamen verkeilt zum Stehen.
Adlinn rollte die Augen, und der Händler lachte.» So so«, rief er laut und pfiff durch die Zähne. »Da hat der kleine Esel ja mehr Verstand bewiesen, als ich ihm zugetraut hätte! Holt er mir ja Kunden heran!« Sein dröhnendes Lachen ließ alles um ihn herum beben. Adlinn lächelte unverbindlich und versuchte mit einer Rückwärtsbewegung, den Wagen freizubekommen. Sie hatte nicht ganz so überschwänglich gute Laune wie der Händler.
Doch vergeblich, die Wagen waren verkeilt. Zum Haareauswachsen!
Als Adlinn sich nach der Stelle umdrehte, wo die Wagen verhakt waren, tauchten fünf weitere kleine Katzenköpfe wie auf einer Perlenschnur gezogen hinten im Wagen des Händlers auf. Als sie ihr Geschwisterchen in Adlinns Wagen sahen, sprangen auch sie herüber.
›Nun gut‹, dachte Adlinn. ›Es soll wohl so sein.‹ Sie nickte dem Händler zu. »Dann nehmt Ihr sie besser gleich wieder an Euch!«
Der Händler hatte die Katzen schon wieder vergessen und band gerade seinen Ziegenbock los, ein räudiges Tier, das wie die Pest stank. »Hier ist er, hier ist er, nehmt ihn nur, gute Frau! Er ist ein Prachtkerl, der gute Fred!«
Mit einer erstaunlich schnellen Bewegung für eine so beleibten Mann schwang er sich von seinem Wagen und brachte die Ziege zu Adlinn herüber. Seine Weinfahne stank fast noch schlimmer als die Ziege.
Ellena war wirklich wieder eingeschlafen. In Bardos Armen fühlte sich das Mädchen hundertmal wohler als allein auf dem Harten Holz des Wagens. Bardos konnte ihre gleichmäßigen Atemzüge hören, während Ellena zum Glück von unschönen Träumen verschont blieb. Das Geruckel des Wagens schaukelte sie in einen erholsamen Schlaf und Bardos Umarmung wärmte sie.
Doch irgendwann gab es einen leisen Schlag und das Fahrzeug machte eine merkwürdige Bewegung. Ellena erwachte aus ihrem Schlaf und merkte, dass sie nicht mehr weiterfuhren. Das Mädchen blinzelte in die Sonne, welche nun nicht mehr von Wolken verdeckt war. Auch Bardos schien durch irgendetwas abgelenkt, denn er schaute zur Seite.
Plötzlich wurde Ellena bewusst, dass sie nicht mehr allein waren. Neben ihnen stand ein großer Wagen vollbeladen mit allem möglichen Krimskrams. Und irgendetwas roch hier fürchterlich streng. Ellena erschrak und schnappte sich mit der Hand Adlinns dunkles Schultertuch, welches sie sich sofort um den Hals wickelte. Schließlich hatte der Strick seine Spuren hinterlassen und es ging wirklich niemanden sonst etwas an.
Gerade als sich Ellena wieder gegen Bardos lehnen wollte, hörte sie ein leises Maunzen und neben ihrer Hüfte tauchte auf einmal ein kleiner grauer Kopf auf und sah sie mit großen Augen an. Es war ein Katzenjunges. Vielleicht fünf oder sechs Wochen alt. Das Maunzen klang fanst kläglich und Ellenas Herz wurde ganz weich. Vorsichtig griff sie nach dem Kleinen und zog es zu sich auf den Schoß, wo sie es sanft streichelte. Woher kam dieses kleine Etwas auf einmal? Gehörte das Katzenkind dem Mann in dem anderen Wagen?
Der Wagen des Händlers kam näher und nun konnte selbst Bardos die oberste Spitze des Wagens erkennen. Die Auswahl war unglaublich willkürlich: Ein Holztisch war mit einer Waschschüssel verkeilt, dazwischen war ein Federkissen gequetscht.
›Oh je. Was ist das denn für ein Händler‹, dachte Bardos und hoffte inständig, dass sie von ihm nicht aufgehalten würden. Doch Adlinn war so ungeschickt und rumps stießen beide Wagen zusammen.
Ein genervtes Stöhnen entglitt Bardos, doch er riss sich zusammen, um nicht mit Adlinn zu schimpfen. Sollte sie den Händler auch wieder loswerden. Er würde keine Kupfermünze an diesen Mann verschwenden.
»Jetzt weckt er auch noch Brunderei auf«, schimpfte Bardos leise. Da sah er, dass seine Schwester sich irgendetwas auf den Schoß nahm. Als er seiner Schwester über die Schulter sah, sah er eine niedliche kleine Mietzekatze. Das erinnerte ihn an seine Kindheit, als er und seine Schwester auch eine Katze hatten, die durch einen streunenden Kater ebenfalls sechs kleine Katzen zur Welt brachte.
Gerade wollte er mit seinem Zeigefinger ebenfalls über das Kätzchen streicheln, als neben ihm ein ebensolches Mauzen ertönte.
»Na wer bist du denn?«, fragte er sanft den kleinen grauen Tiger, der ihn mit grünen Augen ängstlich anschaute. Er nahm die Katze in seine Hand und war erstaunt, dass das kleine Tier nun in seiner Hand fast verschwand. Es war nun eine erwachsene Männerhand und nicht mehr die eines dreizehnjährigen Jungen. Die kleine Mietze konnte sich nicht entscheiden, ob sie Angst hatte. Doch schließlich entschied sie sich, sich Bardos Streicheleinheiten gefallen zu lassen und schnurrte wohlig.
So war Bardos ganz abgelenkt und kam gar nicht auf den Gedanken, dass Adlinn vielleicht seine Hilfe benötigte.
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Nur wer seine Rechnungen nicht bezahlt, darf hoffen, im Gedächtnis der Kaufleute weiterzuleben. (Oscar Wilde)
Adlinn stieg eilig ab, als der dicke Mann auf sie zukam und die Ziege vor sich herschob. Das Tier kaute an einem Grashalm und stank, eindeutig war es ein Bock, und noch dazu kein besonders hübsches Tier.
»Nein, nein, NEIN!«, rief sie und winkte mit beiden Händen energisch ab. Ich brauche keine Ziege, ehrlich nicht, nehmt Eurer Tier wieder mit!
Doch sie hatte keine Chance gegen die fröhliche Vehemenz des Mannes.
»Na, na, jeder braucht eine gute Ziege, die Dame! Seht nur, welch schönes Tier! Sie gibt gut Milch und frisst Euren Müll!«
Adlinn seufzte, als er ihr die Leine des Bockes aufdrängte. Eher würde Mittelerde rot anlaufen, als dass dieses Tier auch nur einen Tropfen Milch geben würde. »Es ist ein Bock, ich bin doch nicht blind. Er gibt keine Milch und auch keine Wolle...hey!« Sie riss die Leine der Ziege zurück, als es sich seitlich einen breiten Streifen ihres Rockes abriss und auffraß. »Du Satansvieh, lass los!« Doch so sehr sie auch zog, ihre Arme waren zu kurz um die nötige Distanz zwischen sie und die kauende Ziege zu bringen.
»So nehmt sie schon zurück, Mann!«
Doch der Händler winkte fröhlich ab. »Seht nur, er mag Euch!«, rief er und lachte dröhnend, während er sich den Bauch hielt. »Ich wusste doch, dass er guten Geschmack hat!«
Adlinns Laune kochte nun über und ihr platzte die Hutschnur. Von hinten aus dem Wagen kam auch keine Hilfe, wahrscheinlich waren sie beide mit liebreizenden Kätzchen beschäftigt.
»Ooooooh, Schluss JETZT!« Ihr Brüllen rief die Hunde auf den Plan, die prompt die Ziege bedrängten und Chaos stifteten. Da sie die Ziege aber nicht als Feind erkannten, sondern als Tier, das es zu hüten galt, begannen sie den Bock von hinten in die Beine zu zwicken, so dass er loslief. Adlinn ließ die Leine los und den Hunden und dem Bock ihren Lauf. Sollten sie alle in der Unterwelt schmoren!
Der Händler jedoch war beim Anblick der Hunde blass geworden und warf die Hände in die Luft.» Petrinella«, rief er laut und hielt seinen schäbigen Hut fest. »Hier sind Hunde, Petrinella!« Dann stieg er eilig auf seinen Wagen und grub in dem Wust aus Sachen.
Adlinn blieb völlig verdattert stehen und sah ihm nach. Sie blinzelte. Petrinella? Hatte er etwa eine Frau da hinten drauf? Dem Mann war ja alles zuzutrauen. Vorsichtshalber stieg sie auch auf den Wagen, wer wusste schon, was nun kam.
Mit viel Stöhnen und Ächzen zog der dicke Mann dann jedoch aus dem Chaos eine schöne Katze hervor. Es war die selbe, die vorher wohl auf seinem Schoß gesessen hatte und sich dann verzogen hatte. Offensichtlich handelte es sich dabei um Petrinella.
Der Händler herzte sie inniglich und suchte dann den Wagen nach den kleinen Kätzchen ab, bis er sie auf Adlinns Wagen hinten bemerkte.
»Hallo, ach, noch mehr Volk!«, rief er dann und lupfte fröhlich mit der freien Hand den Hut und mit der anderen Hand Katze Petrinella. »Die Damen haben sich schon angefreundet?«
Jetzt musste auch Adlinn schmunzeln, denn es klang fast, als meinte er Ellena und Bardos mit dieser Anrede, doch es war wohl eher auf das kleine Kätzchen auf Ellenas Schoß und auf Ellena gemünzt.