Areros war überrascht. Hatte Leyron etwa eine Nachricht der Halunken gefunden? Rasch öffnete er den Brief. Die Schrift kam ihm seltsam bekannt vor, doch erst nach dem Lesen der ersten Worte, begriff Areros, dass es ein privater Brief war und ein Blick auf die Unterschrift sagte ihm, dass Aeluin ihn geschrieben hatte.
Rasch gab Areros den Brief Leyron zurück: »Der ist privat.«
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Und er tötete ihn und wurde zum Verlierer. (Koran)
Leyron sah Areros überrascht an. Natürlich war der Brief privat. Was sollte er denn sonst sein? Oder standen da etwa Dinge drin, die … Leyron musste bei dem Gedanken grinsen.
»Lies ihn mir bitte vor«, sagte Leyron. »Ich kann nicht lesen.«
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Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen.
Zögernd nahm Areros den Brief wieder in die Hand. Er überlegte, ob Aeluin damit einverstanden wäre, wenn er den Inhalt kennen würde. Doch er sah ein, dass Leyron sonst wohl nie den Inhalt erfahren würde.
»Na gut«, sagte Areros und faltete den Brief wieder auseinander. Einen Moment bestaunte er Aeluins Geschick so sauber und ordentlich zu schreiben, obwohl sie erst seit drei Jahren schreiben konnte.
Lieber Leyron,
Du wunderst dich wahrscheinlich, dass ich dir schreibe, anstatt einfach mit dir zu sprechen. Ich glaube, dass es auf diese Weise einfacher für mich ist.
Mein Verhalten heute Nachmittag ist dir bestimmt ein Rätsel und meine Kälte dir gegenüber kannst du dir nicht erklären.
Ich hätte heute nicht mit den Kindern Corsaren spielen dürfen. Mein Großvater ist in ihre Gewalt gelangt und fand bei ihnen unter unaussprechlicher Qual seinen Tod. Doch nicht nur, weil ich meine Großmutter und meinen Vater damit tief verletzt habe, war es ein Fehler von mir. Ich habe die Rolle des Kapitäns übernommen – grausam und ohne Gnade. Den Kindern predige ich immer, sie sollen lieb zu einander sein und selbst spiele ich das Gegenteil.
Doch die Kinder wissen, dass ich niemals in Wirklichkeit so handeln könnte. Ich bin nicht so grausam, wie du denkst und schon gar nicht habe ich daran Gefallen gehabt, dich – und sei es nur im Spiel – zu töten. Bitte glaube mir.
Du bist dem Tod als Krieger bestimmt schon unzählige Male nahe gekommen und es war dumm von mir, dich an so einem friedlichen Ort wie Anthara, an ihn zu erinnern. Noch dazu nachdem ich dich gestern Abend noch gebeten habe, mir zu vertrauen und du es mir bereitwillig gewährt hast. Auch wenn es heute nicht den Anschein gemacht hat – ich bin dein Vertrauen wert, Leyron.
Verzeih mir, dass mir der Mut fehlt, mir dir von Gesicht zu Gesicht zu sprechen. Ich …
Beurteile mich nicht nach meinem heutigen Verhalten.
Aeluin
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Und er tötete ihn und wurde zum Verlierer. (Koran)
Leyron hörte Areros Stimme, die Aeluins Worte vorlas, mit wachsender Verblüffung an. Die Sache mit dem Corsarenspiel hatte er schon fast wieder vergessen gehabt. Natürlich fand er Aeluins Verhalten befremdlich, aber er hatte es so hingenommen. Außerdem hatte sie sich ja später am Abend wieder ganz normal verhalten. Zumindest hatte sie sich mehr als bereitwillig von ihm küssen lassen.
Und nun schrieb sie ihm einen langen Brief mit Erklärungen, die zwar nachvollziehbar waren, ihm aber eins klar machten: Aeluin hatte einen komplexen Charakter. Sie machte sich viele Gedanken – vielleicht zu viele. Außerdem hatte sie einen starken Sinn für das Gute. Scheinbar wollte sie auch, dass Leyron in ihr eine gute Frau sah. Als ob Leyron sie jemals für grausam gehalten hätte.
Perplex starrte Leyron Areros an: »Ist das ihr Ernst?«
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Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen.
Areros nickte. Ihm tat Aeluin leid. Da hatte sie sich schon aufgerafft, um Leyron ihre Gedanken und Gefühle zu erklären und dieser verstand nicht, wie ernst es ihr dabei war. Vielleicht sollte er es Leyron erklären.
»Hm. Sie … Aeluin ist ein … hm … Sie denkt über ihr Handeln nach, ob es gut oder richtig ist. Und wenn sie jemanden unbeabsichtig verletzt hat, dann will sie es aus der Welt schaffen …«
»Und dann schreibt sie jedem einen Brief?« Leyron blickte Aeluins Bruder noch immer skeptisch an.
»Nein …«, Areros fühlte sich unwohl. Er wusste natürlich den Grund für den Brief, aber Aeluin würde ihn umbringen, wenn er ihn Leyron sagte. »Du bist wohl ein besonder Fall …«, drugste Areros herum. »Jedenfalls wollte sie, dass du weißt, dass sie niemanden töten würde. Schon gar nicht dich.«
Areros verstummte. Er hatte das Gefühl, dass er mit jedem Wort mehr von Aeluins Gefühlen zu Leyron preisgab. Zwar wusste er nicht, ob Leyron das ganze durchschaute, doch schließlich verstand Leyron bedeutend mehr von Frauen. Doch Arendor befreite ihn von weiteren Worten, denn das Mittagessen war fertig und die beiden jungen Männer gingen hinein zu den anderen.
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Und er tötete ihn und wurde zum Verlierer. (Koran)
Beim Mittagessen saßen alle beisammen, die Arendors Hof bewachten. Sie hatten nichts besonderes gekocht, da im Dorf natürlich die Frauen für das Kochen zuständig waren, während die Männer auf den Feldern arbeiteten. Trotzdem konnte man den Eintopf essen, wenn er auch bei weitem nicht so schmackhaft, wie Aelandras Eintopf war.
Die Männer vernahmen erfreut, dass Arendor vorhatte die Frauen zu holen und nun wieder Normalität im Dorf einkehren würde. Dass das Dorf nicht angegriffen worden war, erleichterte die meinsten. Denn sie waren Bauern und keine Soldaten. Sie hätten ihre Familien und ihr Dorf verteidigt. Doch um so besser, dass es nicht nötig war.
Dass Arendor die Mitglieder seiner Familie ausgewählt hatte, um die Frauen zurückzuholen, nahm ihm keiner übel. Auch wenn sie selbst gern ihre Familien so schnell wie möglich wieder gesehen hätten. Sie würden jedoch spätestens am Abend wieder in Anthara sein und dann würden sie sich nicht so bald wieder trennen müssen. So hofften sie zumindest.
Areros sattelte nach dem Essen rasch Mithrandir, ebenso wie Nirion und Leyron zwei andere Pferde aus dem Stall für den Ritt vorbeireiteten. Leyron nahm Bará, die Stute auf welcher sonst Lundor oft ritt.
Vorsichtshalber nahmen die jungen Männer ihre Waffen mit. Sie wussten nicht, was ihnen auf dem Weg begegnen könnte. Areros sah, dass Arendor Nirion sein Zweitschwert gab. Bisher hatte Nirion ein Schwert vom Zwerg gehabt, aber nun, da kein Angriff stattfand, wollte Arendor nicht riskieren, dass etwas mit den Waffen geschah. Er befürchtete sowieso, dass der Zwerg trotz allem Gold von ihm verlangen würde.
Arendor umarmte seinen Sohn Areros und trug ihm auf seine Mutter herzlich von ihm zu grüßen und sie alle heil wieder nach Anthara zu geleiten. Er bedankte sich noch einmal, dass Areros bereit gewesen war Anthara zu verteidigen und er hoffte, dass sie in den nächsten Tagen einmal über Areros überraschende Offenbarung, dass er ein Kämpfer war, sprechen könnten. Areros war damit einverstanden. Es würde seiner Meinung nach bestimmt leichter werden, als mit Aeluin darüber zu reden. Besonders, weil Arendor selbst verschwiegen hatte, dass er einmal Soldat war.
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Und er tötete ihn und wurde zum Verlierer. (Koran)
Areros stieg auf seinen Fuchs, hob noch einmal zum Gruß die Hand und trieb Mithrandir schnell an, so dass er einige Meter vor Nirion und Leyron galoppierte.
Ihn drängte es seine Familie wieder zu sehen und sich zu vergewissern, dass es ihnen allen gut ging. Er war überrascht, wie sehr ihm seine Familie fehlte. Sogar auf Lundor und Lendil freute er sich, obwohl er mit beiden oft über ihren Wunsch Soldat zu werden in Streit geriet.
›Die Hauptsache ist, es geht allen gut‹, dachte Areros während der Wind um seine Ohren piff und durch sein schwarzes Haar fuhr. Er überlegte, was die anderen wohl gerade machten. Die Kinder würden bestimmt lustige Spiele machen und Aeluin wäre mittendrin. Ein Grinsen erschien auf Areros Gesicht, als er sich seine Schwester vorstellte, die von eine Traube von Kinder umringt versuchte ihren kitzelnden Händen zu entkommen.
Unbewusst trieb er sein Pferd noch etwas schneller an, da er in Gedanken schon dabei war, heldenhaft herbei zu reiten und Aeluin vor der Meute unbarmherziger Kinder zu retten. Doch dann fiel ihm ein, dass er diese Rolle eher Leyron überlassen sollte. ›Aeluin und Leyron‹, überlegte er. ›Wäre schön, wenn sie ein Paar würden. Leyron ist … Hm. Wie soll ich es beschreiben? Er ist … Es gibt kein Wort dafür. Ich mag ihn einfach. Keine Ahnung warum.
Vielleicht weil er Aeluin mir nichts dir nichts den Kopf verdreht hat. Eine Höchstleistung, die wohl noch kein Mann fertig gebracht hat‹, Areros musste breit grinsen, als er an das verzweifelte Gesicht Aeluins dachte, als sie ihm sagte, dass Leyron ihr den Kopf verdreht hat. ›Aeluin ist so verändert. Sie macht sich endlich Gedanken über ihr eigenes Leben, als immer nur das anderer zu leben. Oder besser gesagt ihre ganze Kraft, Energie und Liebe anderen Menschen zu opfern … Obwohl sie es wohl kaum als Opfer ansieht.
Aber Aeluin muss endlich an sich selbst denken. Auf Lundor und Lendil kann ich auch allein aufpassen. Und Andirana und Lugreda schaffen es bestimmt auch, ihre Kinder zu gescheiten Menschen zu erziehen. Mutter hat es ja auch ohne die Hilfe einer Schwester geschafft.‹
Gedankenvoll überlegte Areros, ob seine Mutter es tatsächlich geschafft hatte, gute Menschen aus ihren Kindern zu machen. Aber eigentlich fand er nicht viel, was er an sich und seinen Geschwistern auszusetzen hatte. Und sie alle verband eine tiefe Liebe, die kein Streit zerstören könnte.
Auf einmal sehnte sich Areros nach seinen Geschwistern. Hoffentlich machte sein Vater Ernst und sie würden bald wieder einen Familienausflug machen. Ja, das wäre eine großartige Sache und würde die Familie wieder enger zusammenschweißen.
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Und er tötete ihn und wurde zum Verlierer. (Koran)
Areros Blick wanderte zu Nirion, welcher gerade dabei war ihn zu überholen. Auf seinem Gesicht konnte Areros auch Sehnsucht erkennen. Lange waren sein Schwager und seine älteste Schwester sonst auch nie getrennt. Kein Wunder, dass er sie nun bei sich haben wollte. Überhaupt verband auch Nirion und Andirana eine innige Liebe.
›Ob so etwas normal ist?‹, fragte sich Areros. ›Wie schafft man es eigentlich seine große Liebe zu finden? Und woher weiß man, dass sie es auch wirklich ist?‹
Areros hatte große Lust Nirion danach zu fragen. Aber die Anwesenheit Leyrons hielt ihn davon ab. Ihm war es noch immer peinlich, wenn er an sein eigenes nicht vorhandenes Liebesleben dachte und es dann mit Leyrons vermutlichen Liebesleben verglich. Da lagen mehr als Welten dazwischen – da war sich Areros sicher.
Deshalb würde er auch so gut es ging vermeiden, von Frauen zu sprechen. Vielleicht könnte er ja auch in den nächsten Tagen ein paar Erfahrungen dazu gewinnen. Er könnte einfach in das Dorf reiten und die Frau fragen, ob sie nicht doch … Aber würde sie noch wollen? Er hatte sich ziemlich dämlich benommen.
Wütend über sich selbst runzelte er die Stirn. Er und Frauen passten einfach nicht zusammen. Selbst Pantia hatte sich einen anderen genommen! Pantia … Der Gedanke an sich, gab seinem Herzen einen Stich. Er hatte sie verloren, bevor er sie überhaupt gewonnen hatte. Und alles nur, weil er so unglaublich schüchtern war.
Areros wusste, dass er kein schlechter Mann war. Zumindest nicht schlechter, als der Rest der Männer in Gondor. Er würde seine Frau immer gut behandeln und ihr ein treuer Ehemann sein. Aber was nützten ihm diese Eigenschaften, wenn er einfach seinen Mund nicht aufbekam, wenn er in der Nähe seiner Traumfrau war?
»In dem du zu ihr gehst, ihre Hände nimmst und sie so nahe an dich heran ziehst, dass sie gar nicht anders kann als dir in die Augen zu schauen. Wenn deine Finger mit ihrem langen blonden Haar spielen, sage ihr, dass sie das bezauberndste Wesen ist, das dir je begegnet ist. Lass sie spüren, welches Feuer sie in dir entfacht hat. Und mach ihr bewusst, dass nur sie dieses Feuer noch bändigen kann!«
Wieder hörte er Leyrons Worte und abermals dachte er verzweifelt, dass er es nie schaffen würde so zu handeln. Wütend trat er Mithrandir in die Seiten. Sie waren mittlerweile in Fandasaf angekommen und würden die Lichtung bald erreicht haben.
Nach den anfänglichen Unstimmigkeiten zwischen Leyron und der hübschen Fuchsstute Bará, hatte er das temperamentvolle Pferd nun endlich unter Kontrolle. Dennoch ließ er Nirion und Areros vorweg reiten. Sie schienen ihren Gedanken nachzuhängen, ebenso wie er selbst. Mit einem Lächeln auf den Lippen erinnerte er sich daran, wie er das erste Mal auf einem Pferd gesessen hatte. Es war noch gar nicht so lange her.
Damals hatte er sich immer wieder gesagt, dass es nicht viel anders wäre, als das Klettern in der Takelage. Es gehörte ein fester Wille und ein gutes Maß an Erfahrung dazu, mehr nicht. Mit ersterem war er seit Kindesbeinen an gesegnet und letzteres hatte er einfach sammeln müssen. Doch seit seiner Flucht hatte er gelernt, dass alles was einem begegnete, vielleicht irgendwann einmal von Wichtigkeit sein konnte, und dass ein geschulter Blick schon viel mitbrachte, wenn man sich rein äußerlich anpassen wollte.
Ja, er hatte viel gelernt in den letzten Jahren.
Nirion hatte sich zurückfallen lassen und ihn in ein kurzes Gespräch verwickelt, dann aber war er wieder zu seinem Schwager aufgeschlossen. Während Leyron Bará in leichten Trab fallen ließ, schweiften seinen Gedanken zu Aeluin, die er nun bald wieder sehen würde, und zu dem Brief, den sie ihm geschrieben hatte. Der erste Brief den er je bekommen hatte. Noch immer verstand er nicht ganz warum sie nicht von Angesicht zu Angesicht mit ihm gesprochen hatte.
›Es muss ihr wirklich sehr wichtig sein das ich mir kein falsches Bild von ihr mache. Nicht das es mir je in den Sinn gekommen wäre, sie als grausam anzusehen. Ganz davon abgesehen, dass ich Gefallen gefunden hatte sie zu küssen und in diesem Moment mitnichten von ihr mit Worten hätte verletzt werden können. Dennoch … Es macht sie nur interessanter.‹ Bei diesen Gedanken zierte sein typisches Schmunzeln Leyrons Gesicht.
Oh … Er erinnerte sich an ihre weichen, vollen Lippen. Lippen die zum küssen gerade zu geschaffen waren. An den Duft ihrer zarten Haut, an …