Leyron musste sich beherrschen, um nicht loszulachen, als er Areros bissige Worte hörte. Areros schien es ja ganz schön erwischt zu haben. Ihm war es nicht darum gegangen, seinen Begleiter als unwissend da stehen zu lassen, noch weniger darum, dass er nun beleidigt war. Eigentlich hatte er Areros nur einen kleinen Anstoß geben wollen, endlich einmal den Mund aufzumachen, was ja scheinbar an dem Abend des Dorffestes gänzlich schief gelaufen war.
Pantia war ihm völlig egal. Wobei das nicht ganz stimmte. Es war nicht so, dass er sie abgewiesen hatte, weil sie ihm nicht gefiel, sondern wie er zuvor schon gesagt hatte, zum einen Areros deutlich anzusehen war, dass er sie mochte und zum anderen Aeluin gerade wesentlich interessanter war.
Leyron überlegte ob und wenn ja was er Areros antworten sollte. Eigentlich ging ihn das Problem seinen Begleiters nichts an, vor allem dann nicht, wenn dieser sowieso lieber darauf verzichten wollte, darüber zu reden.
Areros lenkte dann jedoch, noch bevor er etwas antworten konnte, in ein anderes Thema. Inzwischen lief er auch schon wieder einige Schritte vorweg. Leyron schloss zu ihm auf und setzte dann zu einer Antwort an.
»Man muss nicht alles wissen, um aus deinen Gesten und Antworten etwas heraus lesen zu können. Eine gute Menschenkenntnis ist oft von Vorteil wenn man überleben will«, sagte Leyron leise. Es war das einzige, was er zu dem Thema noch zu sagen hatte, zumindest vorerst.
»Was deine Frage angeht, wenn ich dein Bruder wäre, würde ich den Weg Richtung Minas Tirith einschlagen. Was soll er in Anthara, wenn er genau weiß, dass euer Vater ihn dafür nur beschimpfen, vielleicht sogar bestrafen würde. Ich kenne euch zu wenig, um sagen zu können, wie ihr reagieren würdet.
Aber Lundor ist, glaube ich, wild entschlossen endlich auf eigenen Beinen zustehen und sich ein Bild von der Welt außerhalb Antharas zu machen. Er will kein Bauer sein, das hat er oft genug gesagt. Er wird also wohl kaum nach Anthara unterwegs sein. Allerdings ist das nur meine Meinung, damit wir uns richtig verstehen.«
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Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen.
Überrascht schaute Areros Leyron an. »Vater würde Lundor niemals bestrafen! Er wäre bestimmt nur maßlos enttäuscht, dass Lundor so gegen seinen Willen gehandelt hätte. Wäre es tatsächlich zu einem Überfall gekommen und Lundor wäre dabei gewesen, dann hätte er nicht so gute Chancen gehabt!«, antwortete Areros auf die Vorwürfe.
»Ich habe ja selbst auch Angst gehabt, kämpfen zu müssen. Dabei hat mir Rerlad einiges beigebracht. Doch ein Kampf auf Leben und Tod ist etwas ganz anderes.«
Areros ging weiter – nun in Richtung Nordwesten. Sein Blick suchte den Boden ab, doch frische Spuren konnte er nicht entdecken.
Während er ging, sprach er weiter. »Wir sind, wie du sicherlich schon gemerkt hast, sehr friedliebend erzogen worden. Vater hat uns beigebracht, dass wir Konflikte lösen sollten – aber immer ohne Gewalt.
Das war nicht immer leicht«, grinste Areros. »Denn manchmal steckt in einem eine so große Wut, dass ein Kampf die einzige richtige Lösung zu sein scheint. Doch Vater hat uns nicht kämpfen lassen … Nun ja schon … In begrenztem Maße … Wenn es um das Kräftemessen zwischen uns Jungs ging. Aber sobald er merkte, dass Wut und Rache eine Rolle spielten, schritt er gnadenlos ein. Warum weiß ich nicht …«
Areros hielt an und drehte sich zu dem Krieger um. »Verstehst du? Wir sind dazu erzogen worden, dem Kampf aus dem Weg zu gehen und eine andere Lösung zu finden. Und Lundor ist nicht anders. Bei ihm kommt eher noch erschwerend dazu, dass er so vertrauensselig ist. Er würde noch einen bewaffneten Mann freundlich die Hand schütteln und mit ihm einen Krug Met trinken wollen … Gerade deshalb finden Aeluin und ich es so gefährlich, dass Lundor Soldat wird. Von den anderen Gründen mal ganz abgesehen.«
Areros war sich gar nicht sicher, ob Leyron verstand, was er ihm sagen wollte. Für ihn musste es absolut seltsam klingen, dass jemand dem Kampf aus dem Weg gehen wollte. Und dass Lundor kein Soldat werden sollte, musste ihm wohl mehr wie verbohrte Familienliebe vorkommen.
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Und er tötete ihn und wurde zum Verlierer. (Koran)
»Mir ist durchaus schon aufgefallen, dass ihr alle friedlich erzogen worden seid. Deine Brüder und Schwestern und du, ihr habt das Glück in einer Gegend aufgewachsen zu sein, in der Friedlichkeit ein hohes Gut ist.
Es steht mir und anderen nicht zu, eure Erziehung zu beurteilen. Ich habe auch keine Ahnung davon, wie Gondor seinen Soldaten ausbildet, aber wenn Lundor einer Veränderung entgegen gehen, will dann müsst ihr ihn gehen lassen.«
Leyron wandte sein Augenmerk für einen Augenblickt vom Boden ab und Areros zu. Ihm war durchaus bewusst, dass dem Mann an seiner Seite diese Worte nicht schmeckten, doch warum sollte er ihn mit schmeichelnden Worte von etwas überzeugen, was er nicht so sah?
»Lundor wird seine Erfahrungen machen und dann wird er zu euch zurück kommen. Er weiß, dass hier seine Familie ist und dass ihr für ihn da seid, auch wenn ihn das wohl im Moment eher von hier fort gelockt hat.«
Noch während er sprach, entdeckte Leyron Spuren, die darauf hindeuteten, dass sie Aeluin auf relativ sicherem Weg folgten.
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Einen Augenblick lang überlegte Areros, ob er Leyron antworten sollte. Leyron hatte nicht verstanden, was er sagen wollte. Vielleicht war das auch zu viel verlangt. Leyron kannte Lundor so gut wie gar nicht. Er kannte nicht dessen Vergangenheit und schon gar nicht Lundors Charakter. Der Krieger sah wohl in erster Linie einen enttäuschten jungen Mann, der vom einengenden Heimatort fortlief, um sein Leben so zu leben, wie er es für richtig hielt.
Areros konnte diesen Standpunkt ja verstehen. Er verstand auch Lundors Wunsch. Jeder junge Mensch wollte über sein Leben selbst entscheiden dürfen und es so leben, wie er selbst das für richtig hielt. Das hatten Andirana und Lugreda gewollt, als diese durchsetzten, dass sie auch ohne väterliche Begleitung in die Nachbardörfer zum Tanz oder anderen Festlichkeiten durften. Aeluin hatte später davon profitiert …
Areros selbst hatte seinerseits durchgesetzt, dass er alt und stark genug war, um auf Aeluin aufzupassen. Dann durften sie endlich zu zweit Wanderungen unternehmen, die auch über Nacht dauerten. Dass sich dies gerade als Fehlentscheidung herausstellte, konnte damals keiner wissen oder auch nur erahnen. Das Lehrgeld dafür war hart bezahlt worden – für Aeluin, aber auch für ihn.
Schon allein deshalb wollte er Lundor aufhalten. Wenn man wusste oder ahnte, dass etwas unglücklich ausgehen wird, dann konnte man doch nicht seelenruhig die Hände in den Schoß legen und sagen: »Jeder muss seine Fehler selbst machen!«
Das konnte Areros nicht. Nicht, wenn die Möglichkeit bestand, dass Lundor nicht lebend wiederkehrte. Das konnte niemand, der liebte.
So gingen sie schweigend nebeneinander her und verfolgten Aeluins spärliche Spuren bis in die Dunkelheit hinein.
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›Wie mag es den anderen wohl gehen?‹, überlegte sie und fügte leicht schuldbewusst hinzu: ›Hoffentlich machen sie sich keine allzugroßen Sorgen um mich. Vielleicht vermuten sie ja, dass ich Lundor schon gefunden habe. Oder in Anthara bin.‹
Doch da fiel ihr ein, dass in Anthara ja Räuber waren und ihr Vater und ihr Bruder wohl gerade in diesem Moment um ihr Leben kämpften. Angst um ihre Familie ergriff sie. Die schlimmsten Befürchtungen erschienen vor ihren Augen und unwillkürlich flossen ihr Tränen über die Wangen.
»Reiß dich zusammen, Luin«, sprach sie leise streng zu sich selbst. »Es nützt keinem was, wenn du dir um die anderen Sorgen machst. Du kannst ihnen doch nicht helfen. Sie würden es lieber haben, wenn du auf dich selbst aufpasst!«
Entschlossen wischte sich Aeluin die Tränen aus dem Gesicht und legte noch einmal Holz nach. ›Außerdem hat Vater bisher jeden Streit schlichten können‹, machte sie sich Mut. ›Allerdings werden die Räuber kaum mit sich reden lassen, sondern gleich ihre Waffen ziehen … Doch Vater war einmal Soldat!‹ Unbefriedigt schüttelte Aeluin den Kopf. In ihren Augen passte es gar nicht, dass ihr Vater einmal ein Soldat gewesen sein sollte. Die Rüstung, die er angehabt hatte wirkte so fremd … und doch auch so passend.
Schlimmer noch war Areros. Er und Waffen. Doch seltsamerweise hatte er so ausgesehen, als hätte er nie etwas anderes getragen. Sein Blick war so entschlossen gewesen. »Warum hast du nur zu den Waffen gegriffen, Areros?«
Zu gern hätte sie diese Frage beantwortet gehabt, doch gleichzeitig fürchtete sie sich vor der Antwort. Was, wenn Areros sich entschlossen hatte auch Soldat zu werden? Was, wenn ihr Bruder auch nach Minas Tirith gehen würde, um in Denethors Truppen aufgenommen zu werden? Was würde dann aus ihm werden?
Plötzlich hielt Leyron Areros mit dem Arm an. In der Dunkelheit konnten sie nicht viel sehen, aber etwas knisterte in einiger Entfernung.
»Ein Feuer?«, flüsterte Areros leicht aufgeregt.
»Ja«, antwortete Leyron. »Meinst du, das könnte Aeluin sein? Kann sie ein Feuer machen?«
»Natürlich kann Aeluin Feuer machen. Wir haben schon öfter im Freien übernachtet. Sie weiß, was sie zu tun hat.«
Areros war ganz aufgeregt. Vielleicht fanden sie nun endlich Aeluin – hoffentlich unverletzt. Zielstrebig ging er voran, jedoch trotzdem so leise wie möglich. Bald bemerkten die jungen Männer, wie Feuerschein eine Stelle des Waldes erhellte. Doch noch war der Wald zu dicht durch Bäume und Sträucher verdeckt, dass sie nicht sahen, wer am Feuer saß.
Als sie kaum 100 Schritte entfernt waren hielt Leyron Areros abermals an.
»Wir können nicht sicher sein, dass es Aeluin ist. Wir sollten vorsichtig sein! Gäste in der Dunkelheit werden selten freundlich aufgenommen«, wisperte Leyron. »Wir sollten uns trennen. Ich werde versuchen mich von hinten anzuschleichen. Gib mir ein paar Minuten Vorsprung!«
Areros war einverstanden und wartete wie verabredet. Er selbst konnte Leyron kaum mehr ausmachen, denn dieser verstand sich darauf sich lautlos heranzupirschen. Areros zog sein Schwert und ging weiter den Weg entlang, doch nahm er Deckung so weit es ihm gelang.
Als er freie Sicht auf das Feuer hatte, war es verlassen und kein Mensch war in der Nähe. Sofort wurde Areros wachsam. So leise, wie es ihm möglich war, schlich er sich heran. Doch er konnte niemanden erkennen. An der Feuerstelle entdeckte er einen einsamen Rucksack. Der Besitzer musste also noch irgendwo in der Nähe sein.
Suchend blickte er sich um. ›Wo ist nur Leyron?‹, dachte er gerade, als er sowohl die Gefahr spürte, als auch einen Schrei vernahm. Behende fuhr er mit dem Schwert um sich, um den Angriff des Gegners zu vereiteln. Doch er blickte in die gleichen grünen Augen, als würde er in einen Spiegel schauen.
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Unwillkürlich schauderte Aeluin. Aus ihren Rucksack kramte sie ihren Mantel hervor, den sich um die Schultern warf. Doch zog die Luft am Rücken immer noch kalt herein. Also stand sie auf, um sich in den Mantel zu hüllen.
Plötzlich spürte sie eine Gefahr. Irgendwo war etwas. Angst ergriff Aeluin.
›Nur nicht wieder ein Luchs‹, flehte sie inständig. Automatisch griff sie so leise wie möglich zu ihren Schwert. Dann hörte sie einen Ast knacken. Rasch lief sie zu der Eiche und versteckte sich hinter ihr. Nun bedauerte sie es, dass sie keinen Baum zum Hinaufklettern in der Nähe ihres Rastplatzes gesucht hatte. Doch es war zu spät.
Mit pochendem Herzen stand sie mit gezogenem Schwert hinter der Eiche und merkte, wie die Gefahr näher kam. Angestrengt lauschte sie, was für ein Geschöpf es sein könnte. Es hörte sich an, wie Schritte eines Menschen. Nun war er beim Feuer. Es blieb Aeluin nur eine Chance: Sie musste ihn angreifen und versuchen zu überwältigen, bevor er es tat.
Für einen Moment sammelte sie noch einmal alle Kräfte und ihren ganzen Mut zusammen, bevor sie mit gezogenem Schwert und einem Ruf auf den nächtlichen Besuch zustürmte. Klirrend stießen die Schwerter gegeneinander und beide Gegner starrten sich für einige Sekunden sprachlos an.
Aeluin ließ ihr Schwert los und es sank mit einem dumpfen Geräusch auf die Erde. Mit einem Schluchzer aus Erleichterung und Freude, sank Aeluin ihrem Bruder um den Hals.
»Areros«, stammelte sie. »Liebster! Bruder!« Sie küsste ihn abwechselnd auf die Wange und drückte ihn an sich. In Aeluin vollzog sich ein Wettstreit, ob sie nun ihre wahren Gefühle zeigen sollte oder ob sie die Starke spielen sollte. Doch warum sollte sie sich eigentlich vor ihrem Bruder verstellen?
Obwohl Leyron sehr stark vermutete, dass es Aeluin war, auf die sie treffen würden, hielt er es für angebracht sich von Areros zu trennen und sich dem Feuer von zwei Seiten zu nähern. Man konnte nie ausschließen nicht doch unangenehm überrascht zu werden.
Kaum das er sich mit Areros verständigt hatte, verschwand er auch bereits im Unterholz. Er musste nicht weit gehen, um eine Stelle zu finden, die ihn nahe genug heran ließ, ohne dass er gesehen wurde. Doch gerade als er durch das Blattwerk heraustreten wollte, da er bereits Areros am Feuer gesehen, hatte hörte er einen Schrei.
Er staunte nicht schlecht, als er im Schein des Feuers eine Frau mit gezogenem Schwert ausmachen konnte. Sein Staunen wich einem belustigten Schmunzeln. Aeluin hatte gerade versucht, ihren nächtlichen Besucher mit einer Waffe zu vertreiben. Zu gerne hätte er gewusst, was in diesem Moment in Areros vorging.
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Jetzt erst fand Areros seine Stimme wieder. Auch wenn er gehofft hatte, Aeluin hier wiederzufinden, so war er doch über den Empfang mit dem Schwert zu überrascht gewesen. Aeluin und ein Schwert – das erschien ihm wie Denethor auf einem Kartoffelfeld. Das passte einfach nicht zusammen.
Während er in der einen Hand noch immer sein Schwert hielt, umfasste sein linker Arm Aeluin und erwiderte ihre Umarmung.
»Was heißt hier: Ich lebe?«, fragte Areros. »Es ist erstaunlicher, dass du lebst! Was hast du dir eigentlich gedacht, einfach wegzulaufen?«
Areros hatte ganz verdrängt, dass Aeluin nicht wissen konnte, dass es keinen Angriff auf Anthara gegeben hatte. Für ihn lag das schon so weit zurück. Viel wichtiger war ihm jetzt gewesen, seine Schwester unverletzt zu finden, dass alles Gewesene in den Hintergrund trat.
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Aeluin war noch nicht bereit auf Areros Fragen einzugehen. Sie verlangte es nach Antworten auf ihre Fragen.
»Wie geht es Vater? Ist er auch gesund?«, fragte Aeluin hastig und krallte sich in Areros Hemd fest. »Er ist doch nicht verletzt? Oder gar … tot?« Das letzte Worte hauchte sie nur angstvoll.
Areros strich sanft über die Haare seiner Schwester. »Vater geht es gut! Ebenso, wie allen anderen.«
»Nirion?«
»Geht es wunderbar!«
»Gari?«
»Blendend.«
Die Angst um die Männer, die ihr am Herzen langen legte sich langsam wieder und wurde zurückgedrängt. Doch dann fiel ihr noch eine Person ein, der nichts passiert sein durfte.
»Und … Leyron?«, fragte Aeluin mit einem seltsamen Tonfall, der sowohl Angst, Sehnsucht, Liebe, aber auch gewollte Distanzierung von ihren Gefühlen ausdrückte.
Leyron folgte seinem ersten Impuls, jenem ebenfalls ans Feuer zu treten, nicht, sondern hielt sich weiterhin bedeckt. Areros und Aeluin sollten sich erst einmal mit einander beschäftigen. Er war froh, dass sie die junge Frau bereits in dieser ersten Nacht gefunden hatten. Nicht, dass er ihr inzwischen nicht zutraute, durchaus eine Nacht alleine in diesem dichten Wald zu überleben. Doch war ihm wohler dabei, sie nun wohlbehalten gefunden zu haben.
Und wenn er ehrlich war, bot ihm diese Nacht vermutlich sogar die Chance, sie eine Weile ungestört beobachten zu können, wenn sie schlief. Die neue Seite, die Aeluin ihm gerade aufgezeigt hatte, machte erneut ein wenig interessanter und er war schon gespannt, was sie zu erzählen hatte, wenn sich erst einmal die Gelegenheit bot, sie auf ihre Verteidigung anzusprechen.
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Areros antwortete nicht sofort, sondern blickte forschend in das Gesicht seiner Schwester, das vom Feuerschein erhellt wurde. Sein Gesicht lag hingegen hauptsächlich im Schatten, so dass er das freche Grinsen in seinen Augen verbergen konnte.
»Nun …«, antwortete Areros schließlich. »Ich denke, dass es ihm auch gut geht.«
»Du weißt es nicht?«, fragte Aeluin hastig und etwas atemloser nach.
»Leyron ist nicht der Mann, der seine Gefühle oder seine Befindlichkeit auf der Zunge trägt. Deshalb ist es nur eine Vermutung meinerseits, dass es ihm gut geht.«
Areros Blick wanderte über Aeluins Kopf zu Leyron, der sich schon vor einer Weile von hinten zur Feuerstelle herangepirscht hatte.
»Aber er ist unverletzt?«
»Ich glaube, er hat nur ein paar blaue Flecke!«, sagte Areros leichthin und dachte an die Tannenzapfen, die er am Morgen auf Leyron geschossen hatte. Doch die Erinnerung daran ließ, ihn seine Schwester mustern, ob sie auch unverletzt war. Er hielt sie auf eine Armlänge Abstand und sein Blick blieb – nachdem alles sonst in Ordnung schien – an dem rot-blauen Fleck an Aeluins Hals hängen.
Vorsichtig strich er darüber und meinte: »Mit scheint, darin ähnelt ihr euch. Du hast ja auch einen blauen Fleck.«
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Und er tötete ihn und wurde zum Verlierer. (Koran)
Aeluin hob rasch den Hand zu dem Mal, was Leyron ihr beim Abschied gemacht hatte und zerrte eine Haarsträhne darüber. Ihre Wangen überzog eine jähe Röte, die Areros nicht lange im Zweifel ließen und seine Augenbrauen überrascht in die Höhe trieben.
›Ich bringe ihn um‹, sagte sich Aeluin. ›Wenn ich Leyron das nächste Mal sehe, bringe ich ihn um!‹
»Und sonst geht es den anderen in Anthrara auch gut?«, fragte Aeluin mit nervöser Stimme – um eine Ablenkung bemüht.
Lautlos blieb Leyron in seinem Versteck und hatte zudem noch die Möglichkeit, das Gesprochene der Geschwister weitgehend mitzubekommen. Aeluin fragte ihren Bruder nach den Männern ihres Dorfes, ein Thema das er für nicht so persönlich hielt, als dass er versucht hätte zu vermeiden, mehr als nötig davon zu hören. Erst als sie nach ihm fragte, wurde er hellhöriger und grinste genüsslich vor sich hin, als er Areros Anspielungen auf das Mahl an Aeluins Hals vernahm. Langsam machte er sich daran, sein Versteck zu verlassen.
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Areros war nicht gewillt, sich darauf einzulassen. Insgeheim versuchte er ja seine Schwester und Leyron zusammenzubringen. Also musste Leyron nur davon überzeugt werden, dass Aeluin ihn mochte. Oder besser – mehr als mochte.
»Du hast dich von einem Krieger küssen lassen?«, fragte Areros in einem gespielt vorwurfsvollen Ton. »Was heißt küssen … eher abknutschen lassen. Meine Schwester, die Mädchen mit solchen Malen verachtet? Und eben diese Frau steht nun hier und versucht auf so ungeschickte Weise ein solches Mal zu verstecken?« Areros schüttelte missbilligend den Kopf. »Was ist nur aus meiner tugendhaften Schwester geworden?«
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Aeluin versuchte weiteren Anspielungen Einhalt zu gebieten, indem sie von sich abzulenken versuchte. Doch es misslang ihr. Dadurch aber abgelenkt, gelang es Leyron, sich von ihr unbemerkt weiter an das Feuer und die Geschwister heranzuschleichen. Areros hatte Leyron bereits bemerkt, doch ließ er sich vor seiner Schwester scheinbar nichts anmerken. Denn diese verteidigte sich gerade weiterhin, ohne zu wissen, dass sie ihre Aussage nicht würde halten können. Und dann war sie auch schon da … Die passende Antwort von Areros.
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Mit Areros am Feuer, unbemerkt steht Leyron ein paar Schritte hinter ihr
Aeluins Gesicht wurde immer röter. Sie hatte gewusst, dass sie lauter Spott ertragen würde müssen, weil sie einen Moment schwach gewesen war und Leyron nicht Einhalt geboten hatte. Dass Leyron auch noch ein Krieger war, machte die ganze Sache noch mal so schlimm. Die Tatsache, dass ihr Leyrons Annäherung sehr gefallen hatte, machte die Sache auch nicht besser.
Doch langsam fand Aeluin, dass Areros genug Spaß hatte. Sie boxte ihrem Bruder leicht in den Magen und sagte: »Deine Schwester ist noch ebenso tugendhaft wie eh und je. Keine Sorge! Ich werde diesen Krieger nicht näher als fünf Meter an mich heran lassen!«
Areros legte den Kopf schief und grinste seine Schwester an. Dann blickte er über ihre Schulter und sagte: »Du musst noch ein paar Schritte zurück, Leyron! Das sind keine fünf Meter!«
Aeluin drehte sich geschockt um und erblickte Leyron. Sofort wandte sie sich wieder zu Areros um und ihr entschlüpfte ein leises: »Nein!« Wo war nur das Loch im Boden, in das sie sich verkriechen konnte?
So schnell würde er den entsetzten Blick in Aeluins Augen nicht vergessen. Er konnte nicht anders, als sie anzugrinsen, obwohl er wusste, dass sie dies wohl nur noch mehr verlegen machte.
Schweigend blickte er sie an. Aeluin hatte ihm bereits wieder den Rücken gekehrt. Auch wenn er die Situation immer noch belustigend und gar nicht beschämend fand, hatte er eine ungefähre Vorstellung, wie Aeluin sich gerade fühlen musste. Leyron bemühte sich das Grinsen von seinem Gesicht zu verscheuchen und bewegte sich weder vor noch zurück.
»Verzeih mir Aeluin, wenn ich geahnt hätte das ich dir zu nahe getreten bin, dann wäre ich jetzt nicht hier.«
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Unruhig fielen die Schatten, die das Feuer warf, über den Boden und die Bäume. Aeluin folgte ihnen für einen Augenblick, während sie fieberhaft überlegte, wie sie aus dieser peinlichen Situation möglichst schnell und unbeschadet herauskommen könnte. Doch ein Loch in den Boden zu graben, erschien ihr als die effektivste Methode. Dass sie nun auch noch Leyrons Stimme hörte, machte die Situation nicht unbedingt leichter für sie.
War das nicht seltsam, wie vertraut ihr die Stimme vorkam? Dabei kannte sie Leyron gerade mal vier Tage, wobei sie fast zwei davon gar nicht am gleichen Ort waren. Und doch hatte sie dieser Mann entgegen all ihrer Bemühungen im Sturm erobert, ohne dass Aeluin sich auch nur ein kleines bisschen wehren konnte. Mittlerweile konnte sich Aeluin nicht einmal damit beruhigen, dass Leyron von ihren Gefühlen nichts bemerkt hatte. Stattdessen hatte sie eher das Gefühl, als stände es groß und breit auf jedem Baum, auf jedem Strauch, ja sogar am Sternenhimmel.
Noch einmal atmete sie tief durch, straffte die Schultern und drehte sich zu Leyron um. Sie hatte sich noch immer keine Antwort überlegt und in die blauen Augen des Kriegers zu schauen, förderte die richtige Wortwahl keineswegs. Sie musste eher gegen den dringenden Wunsch ankämpfen, die wenigen Schritte zu ihm zu laufen und ihn zu umarmen.
»Hätte ich gewusst, dass du kommen würdest, hätte ich meine Worte auch anders gewählt«, sagte die junge Frau mit immer stärker werdender Stimme. Eigentlich waren das keine schlauen Worte, aber besser als irgendetwas zu stottern.
Sein Blick verlor sich in ihren wunderschönen grünen Augen. Leyron grinste nicht mehr, sondern lächelte Aeluin aufrichtig an.
»Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte noch einen weiteren Bruder von dir alleine im Wald herum irren lassen?«
Mit einer langsamen Bewegung strich Leyron sich zwei seiner Zöpfe aus dem Gesicht. Dafür, dass Areros und er sie wirklich völlig überrascht hatten, hielt sich Aeluin gut.
»Abgesehen davon haben wir ein Feuer gesehen und uns gedacht, wenn wir schon so offensichtlich eingeladen werden, dann sollten wir uns auch zu erkennen geben. Da du aber so mit Areros beschäftigt warst, hast du mich natürlich nicht kommen hören können.«
Leyron legte seinen Kopf leicht schräg, ehe er sich noch einmal an Aeluin wandte und sie bei seinen Worten interessiert musterte. »Soll ich dir noch einmal die Möglichkeit geben mich fort zu schicken Luin?«, fragte er beinahe liebevoll.
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Aeluins Herz schlug hart in ihrer Brust. Klang Leyrons Stimme nicht wunderschön? Wäre es nicht schön, wenn sie einfach die Augen schließen könnte und seine Stimme hören könnte? Aber das konnte sie nicht. Sie musste sich wie einen erwachsener Mensch benehmen und nicht wie ein kleines albernes Mädchen.
Trotzdem legte sie ihren Kopf schief und schaute Leyron wie ein trotziges Kind an: »Ich kenne Areros. Er wäre nicht im Wald umhergeirrt!«›So wie ich‹, fügte sie in Gedanken hinzu.
Leyron wegzuschicken kam für Aeluin natürlich gar nicht in Frage, aber sie wollte, sie musste Abstand zu ihm gewinnen. Die Verabschiedung in Anthara war sehr … zu intensiv, zu intim gewesen. Wenn sie ihm jetzt, wie es ihr sehnlichster Wunsch war, um den Hals fiele und ihn küsste, würde er denken, dass er ein leichtes Spiel mit ihr hätte. Und das hatte er nicht, würde er nicht haben.
Seine Stimme machte es ihm aber schwer. Sie klang so sanft, so liebevoll. Eine Stimme in ihr rief sie an, warum sie ihren Gefühlen nicht nachgab. Es würde ihr gefallen und es würde ihr gut gehen, wenn sie in seinen Armen wäre.
Aeluin runzelte die Stirn über diese Gedanken. Endlich rang sie sich zu einer Antwort durch: »Wenn du schon einmal hier bist, wäre es doch sehr unhöflich von mir, dich wieder wegzuschicken.«
In Aeluins Gesicht war noch immer Trotz zu erkennen, der aber weniger gegen Leyron, als gegen die widerstreitenden Stimmen in sich selbst gerichtet war.
Ihre Antwort trieb Leyrons typisches Grinsen wieder zurück. Sie hatte passend gekontert.
›Und verdient, sich mit Areros auseinanderzusetzen‹, fügte er belustig in Gedanken an. Er suchte den kurzen Blickkontakt zu Areros, ehe er sich wieder an Aeluin wandte.
›Wie kommst du, Areros, aus dieser Nummer wieder heraus, ohne dass sie dir die Augen auskratzt?‹
»Ich werde euch Zeit lassen, miteinander zu reden und mich nützlich machen. Wir bringen gute Nachrichten und Hunger mit.«
Er würde sich mehr Zeit lassen müssen, als es nötig war, um einen der Hasen zu fangen, die er zuvor gesehen hatte. Aeluin schenkte er noch einmal ein Lächeln seiner Augen, Areros nickte er zu, dann drehte Leyron sich um verschwand im Unterholz.
Eigentlich hätte er ja doch gerne mitbekommen, wie das Gespräch über ihn zwischen den Geschwistern weiter gehen würde … Doch gab es jetzt erstmal wichtigeres, über das sie sich unterhalten mussten.
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Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen.
Areros blickte Leyron nach. Scheinbar wollte Leyron jagen gehen. Zwar jagte Areros selbst nicht schlecht, aber er war mittlerweile viel zu müde, um auf die Pirsch zu gehen. Außerdem schien Regen in der Luft zu liegen. Der Wind nahm stetig zu und rauschte durch die Bäume.
»Leyron mag anscheinend unser Brot nicht mehr«, bemerkte Areros und dachte an die zwei Rasten, die Leyron und er auf der Suche nach Aeluin gemacht hatten. Er selbst aß gerne das Brot, auch wenn es von Arendor gebacken war und nur halb so gut war, wie das seiner Mutter. Aber es schmeckte nach Heimat.
Augenblicklich dachte Areros an seine Eltern, die sich bestimmt große Sorgen um sie machten: um Aeluin, aber auch um Lundor und ihn selbst.
›Wenn ich euch nur Nachricht geben könnte‹, dachte Areros, ›dass wir Aeluin gefunden haben.‹
Plötzlich spürte er einen harten Schlag in seinen Nieren. Überrascht drehte er sich um und schaute in die blitzenden Augen Aeluins. Areros versuchte es mit einem beschwichtigendem Grinsen, auch wenn er nicht viel Hoffnung hatte, dass es Erfolg haben würde.
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Und er tötete ihn und wurde zum Verlierer. (Koran)
Aeluin war enttäuscht. Da war Leyron hier, hatte sie gesucht und auch gefunden und dann kaum, dass er sie gesehen hatte, war er schon wieder weg.
›Und nicht einmal geküsst hat er mich!‹, schimpfte Aeluin innerlich. Sie war sich nicht sicher ob sie den Kuss zugelassen hätte, aber Leyron hatte es nicht einmal versucht. Er hatte gar nichts getan, um den Abstand zwischen ihm und ihr zu verringern.
›Ob er tatsächlich die fünf Meter Abstand einhalten will?‹, fragte sich Aeluin leicht furchtsam. Eigentlich erwartete sie es nicht, aber warum hatte sich Leyron sonst so von ihr fern gehalten? Schließlich hatten sie sich recht leidenschaftlich voneinander verabschiedet … Oder hatte er gar schon wieder eine andere Frau?
›Ach Unsinn … Anthara wird ja kaum von Frauen überfallen worden sein! Und wenn doch, wäre Leyron kaum hier!‹
Aeluin hatte noch immer wenig Vertrauen in die Treue Leyrons. Er war doch zu offensichtlich ein Frauenheld … Innerlich seufzte Aeluin. Wieso musste sie sich auch wegen Leyron ständig so viele Gedanken machen. Er war doch nur ein Mann … Nicht mehr und nicht weniger. Und noch dazu ein Krieger. Die junge Frau fand, dass sie sich den Mann endlich aus dem Kopf schlagen sollte.
Doch dann kam ihr plötzlich ein anderer Gedanke: Was, wenn Leyron gegangen war, weil sich Aeluin gerade so peinlich benommen hatte?
›Oh dieser Areros!‹, stöhnte Aeluin für sich, drehte sich um und knuffte ihren Bruder in die Seite.
»Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, mich so ins offene Messer laufen zu lassen?«, rief Aeluin mit gedämpfter Stimme, da sie nicht recht wusste, ob Leyron nicht doch wieder lauschend im Wald stand.
Areros öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Mit dummen Sprüchen würde er jetzt nicht weiterkommen.
»Komm schon Luin«, begann er schließlich. »Ich weiß doch, dass du ihn magst …«
»Red gefälligst leiser«, zischte Aeluin.
Gehorsam senkte Areros die Stimme, als er weitersprach. »Wie ich dich aber so kenne – und ich kenne dich sehr gut – wirst du es Leyron nie sagen … Zumindest erst viel zu spät. Deshalb wollte ich, dass er erfährt, dass du ihn magst.«
Areros Strahlen gefror ein paar Augenblicke später ein, als er Aeluins wenig freundlichen Blick auf sich ruhen spürte.
»Was ist denn daran so schlimm?«, fragte er.
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