Aeluin blickte zu ihrer ältesten Nichte auf, welche so anders reagiert hatte, als sie es vermutet hätte. Bisher war Nenia nämlich nicht ein so liebes Mädchen gewesen. Sie wehrte sich immer gegen ihre kleinen Geschwister und Cousins und da sie die Älteste war, hatte sie auch immer das Zepter in der Hand. Doch die Jungs - Arendir und Damrod ließen sich mittlerweile nicht mehr alles von ihrer Schwester bzw. Cousine gefallen und schlugen mit gleicher Gewalt zurück. Von Friede und Eintracht war bei den Kindern meist nicht so viel zu finden.
Die Erwachsenen bemühten sich stetig ihnen trotz allem friedliches Miteinander beizubringen. Doch alle mussten sich eingestehen, dass Streitereien unter Kindern einfach von Nöten waren, damit sie sich auch später im Leben durchsetzen konnten. So schlimm waren die Kinder ja auch gar nicht, denn sie hielten auch wie Pech und Schwefel zusammen, wenn einer von ihnen etwas angestellt hatte oder sie sich gegen die Kinder der anderen Dorfbewohner durchsetzen mussten.
»Nenia«, sagte nun Aeluin. »Lugreda macht schon alles richtig. Was Damrod getan hat, war nicht richtig. Aber gestern hast du ihn auch mit der Faust mehrmals auf den Rücken geschlagen. Da hat Damrod auch geweint. Du siehst also, dass ihr beide nicht immer richtig handelt.«
Aeluin musste über den Schmollmund ihrer Nichte lächeln. Sie schien gar nicht mit Aeluins Antwort einverstanden zu sein.
»Du bist doch schon eine große Nenia. Wie wäre es, wenn du für mich weiter die Möhren schneidest? Ich bin ganz schön müde und deine Mama hat ganz großen Hunger und will endlich essen.«
Aeluin sah, dass Nenia ist freute mithelfen zu dürfen. Sie reichte ihrer Nichte ihr Messer und eine Möhre, als sie Andiranas Aufschrei hörte. Überrascht drehte sich Aeluin zu ihrer Schwester um.
Andirana musste gar nicht nichts sagen, denn das übernahm Aeluin schon. Dass Nenia gestern ihren Cousin schlug, hatte sie gar nicht mitbekommen. Ein leicht tadelnder Blick von Seitens Andirana traf das Mädchen, als Aeluin ihre Nichte daran erinnerte.
Aeluin bot der siebenjährigen an ihnen beim Zubereiten des Essens zu helfen und Nenia war von dieser Idee begeistert. Als ihre Schwester dem Kind dann jedoch das sehr scharfe Schneidemesser in die Hand drückte schrie Andirana kurz erschrocken auf. »Nein, nicht das scharfe Messer!« Sie nahm ihr das Messer wieder aus der kleinen Hand. »Das ist zu scharf, Schatz. Du könntest abrutschen und dich verletzen. Warum rührst du nicht ein bisschen das Essen im Topf um? Oder du sagst den anderen, dass sie sich schon auf eine baldige Mahlzeit einstellen können.«
Das Essen war nun schon fast fertig und bald würden sie alle endlich was in den leeren Magen bekommen. Andirana sah zu Aeluin, welche immer noch sehr müde wirkte. »Du solltest dich nach dem Essen noch ein bisschen hinlegen. Die Nacht hat dich ganz schön mitgenommen.«
_________________________________________ Der Chara für alle Fälle …
Ihr benötigt den Nebencharakter (NPC)? Wendet euch bitte an einen Mod.
Aeluin verdrehte die Augen. Nenia war doch kein Säugling mehr, dass man ihr verbieten musste, ein Messer in die Hand zu nehmen. Vielleicht sollte sie ihrer Schwester nicht erzählen, dass sowohl Nenia, als auch Arendir und Damrod seit Beginn des letzten Winters von Lugerod ein Schnitzmesser bekommen hatten und von ihm an den Winternachmittagen schon allerhand gelernt hatten. Damals war Aeluin auch im erstens Moment erschrocken, aber die Kinder hatten sich äußerst geschickt und vorsichtig angestellt.
»Rühr nur das Essen um, Liebes«, sagte Aeluin mit einem Augenzwinkern zu Nenia. »Deine Mutter hat noch nicht bemerkt, dass du kein wunderschönes, niedliches, kleines Baby bist, sondern ein großes Mädchen.«
Nenia zeigte wieder ihren Schmollmund, doch wusste sie, dass jeder Einwand sinnlos war. Ihr Vater Nirion hätte vielleicht etwas gesagt, aber er war nicht da und so konnte sie ihn nicht bitten.
Aeluin antwortete inzwischen Andirana: »Ach was. Ich helfe euch nachher beim Abspülen. Es gibt ja so viel zu tun.«
Schlafen wollte sie auf keinen Fall. Wieder sah sie Lundor Blut überströmt vor sich liegen und automatisch suchte sie die Lichtung nach ihrem Bruder ab, konnte ihn aber nicht sehen. Als sie Andirana nach ihm fragen wollte, kamen die anderen Kinder angerannt und taten laut kund, dass sie großen Hunger hätten. Nun konnte Nenia damit angeben, dass sie mithelfen durfte, doch die anderen Kinder sollten dafür alle zum Essen zusammenrufen.
Aeluin wurde es nun aber zu laut und hektisch. Vorsichtig stand sie auf, murmelte, dass sie keinen Hunger hätte, und setzte sich etwas abseits an einen Baum, der einsam auf der Lichtung stand.
Die Müdigkeit ließ ihren ganzen Körper schmerzen. Aeluin rieb sich die Augen und gähnte herzhaft. Sie sah hinauf zu den Blättern, die im Wind hin und her tanzten und das Sonnenlicht durchließen. Doch noch immer zwang sich Aeluin wach zu bleiben.
Nachdem Aeluin mit Nenia gesprochen hatte und ihr erzählte, dass Andirana wohl noch nicht begriffen hatte, sie schon ein großes Mädchen war, sah sie fast etwas eingeschnappt zu ihrer Schwester. ›Bekomm du erstmal eigene Kinder, meine Liebe, dann können wir weiter reden.‹ Aber schnell verwarf sie diese Gedanken wieder. Ja, vielleicht war sie eine überbesorgte Mutter. Aber war das unbedingt schlecht? Man musste sich ja nicht wissentlich Risiken aussetzen.
Gleich darauf kamen die anderen Kinder - Arendir, Damrod und Lereda - angerannt und verkündeten lautstark, dass sie Hunger hatten. Lugredas jüngster Sprössling war bei seiner Mutter etwas Abseits. Zum Glück mussten sie auch nicht mehr warten, denn das Essen war fertig und die Familie konnte sich gemütlich zusammen setzen. Andirana beauftragte Damrod alle zusammenzutrommeln. Dies tat der Junge natürlich mit Begeisterung.
Besorgt sah Andirana Aeluin hinterher, welche keinen Hunger hatte und sich von der Gruppe entfernt. Müde und ein bisschen frustriert wirkend ließ sie sich an einen Baum gelehnt zu Boden sinken. Ein bisschen Ruhe würde ihr sicher ganz gut tun. Und so ließen auch die anderen Familienmitglieder die junge Frau in Ruhe.
_________________________________________ Der Chara für alle Fälle …
Ihr benötigt den Nebencharakter (NPC)? Wendet euch bitte an einen Mod.
Aeluin massierte sich stöhnend den Nacken. Sie war ganz verspannt und ihr Körper wollte sie mit Schmerzen dazu zwingen, sich endlich auszuruhen und zu schlafen. Doch Aeluin wollte ihm nicht nachgeben. Schon oft hatte sie ihren Körper bezwingen können, warum nicht auch heute?
Sie hatte jedoch nicht mit der List ihrer Schwester Lugreda gerechnet. Diese hatte Aeluin während des Mittagessens aufmerksam beobachtet und gemerkt, dass ihre Schwester sich keine Ruhe gönnen wollte. Sie überlegte, was sie tun konnte. Da kam ihr Diranion unfreiwillig zur Hilfe. Auch er hatte in der Nacht zu wenig Schlaf bekommen und war nun völlig unausstehlich. Er schrie, weinte und wollte gar nicht richtig essen. Der kleine brauchte dringend Schlaf. Er weigerte sich jedoch genauso wie Aeluin zu schlafen.
Da beugte sich Lugreda zu ihm hinab und schlug ihm vor, dass er mit Aeluin Mittagsschlaf machen dürfe. Zuerst schien Diranion das gar nicht zu interessieren, aber kaum ein paar Minuten später bettelte er, dass er mit Aeluin schlafen dürfe. Rasch nahm ihn Lugreda auf ihren Arm, nahm eine Decke und brachte beide zu Aeluin.
»Du Aeluin«, begann Lugreda in leicht genervten Ton. »Diranion ist mal wieder unausstehlich. Er braucht dringend Schlaf. Ich habe ihm versprochen, dass er bei dir schlafen darf. Du hast doch nichts dagegen?«
Mit halb bittendem und halb verzweifeltem Gesicht schaute Lugreda ihre kleine Schwester an. Diese sagte natürlich sofort zu, wie Lugreda es erwartet hatte. Lugreda gab Aeluin die Decke und Diranion und wollte eilig zurück zum Mittagessen. Kaum war sie drei Schritte entfernt brüllte Diranion lautstark los. Lugreda sah sich um und bemerkte, wie Diranion wütend den Kopf in den Nacken gelegt hatte und eine Art Stepptanz eingelegt hatte. Er brüllte aus vollem Hals und Aeluin konnte ihn nicht beruhigen.
Fast überlegte Lugreda, ob sie Diranion wirklich ihrer kranken Schwester überlassen sollte. Ihr Sohn konnte selbst einen gesunden Menschen zur Verzweiflung treiben, wenn er seine Trotzanfälle bekam.
»Was ist denn mein Kleiner?« fragte Lugreda. »Du wolltest doch mit Aeluin Mittagsschlaf machen.«
Diranions Antwort war nicht wirklich verständlich. Einerseits, weil er noch nicht gut sprechen konnte und andererseits, weil er im Grunde genommen nur brüllte.
»Was?« Lugreda versuchte ihren Sohn zu verstehen. »Wenn du so schreist, verstehe ich gar nichts … Aeluin soll sich mit dir hinlegen?«
Die Antwort, die sie von ihrem Sohn bekam klang wie ein sehr weinerliches Ja. Lugreda seufzte und schaute ihre Schwester fragend an.
Aeluin verdrehte die Augen und legte sich schließlich auf den Boden. Augenblicklich verstummte Diranion. Er ließ sich von seiner Mutter die Tränen abwischen und die Nase schneuzen. Dann kam er zu Aeluin und legte sich dicht neben sie.
Aeluin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Dieser kleine Trotzkopf schaffte es immer wieder seinen Kopf durchzusetzen. Eigentlich müsste man ihn einfach mal schreien lassen. Aber im Augenblick fand Aeluin die Stille viel angenehmer, denn ihr Kopf hatte zu schmerzen begonnen.
Nun blickte sie in Diranions blaue Augen, welche sie abwartend anstarrten.
»Tuuu«, sagte Diranion streng.
Aeluin zog die Augenbrauen hoch und überlegte, was Diranion denn jetzt noch wollte. Doch dieser bequemte sich nicht noch einmal zu einer Antwort, sondern drückte ziemlich unsanft Aeluins linkes Auge zu.
»Au«, entfuhr es Aeluin. Doch sicherheitshalber machte sie auch gleich das rechte Auge zu.
»Tuuu«, meinte befriedigt. Dann schloss auch er die Augen. Seine Mutter legte noch rasch eine Decke über beide und wisperte Aeluin zu: »Er wird schnell eingeschlafen sein. Dann kannst du wieder die Augen aufmachen.«
Sie wusste, dass Aeluin nicht schlafen wollte und ihr zureden nur das Gegenteil bewirkt hätte. Doch Aeluin murmelte nur eine leiste Zustimmung und war noch eher eingeschlafen, als ihr Neffe.
Aeluin schlief tief und fest. Die Vergangenheit hatte Erbarmen mit ihr und verschonte sie mit Alpträumen. Die ersten Stunden des Nachmittags blieben traumlos. Ihr Körper sammelte wieder Kraft und verscheuchte die letzten Anzeichen des Fiebers aus ihrem Körper.
Tief und fest schlief Aeluin und bekam nichts von der Aufregung auf der Lichtung mit, als Lundors Verschwinden bemerkt wurde. Alle waren sie unentschlossen und hofften, dass sich ihr Verdacht, dass Lundor wegelaufen war, nicht bestätigen würde. Aeluin hätte ihnen gleich sagen können, dass sie sofort einen Suchtrupp losschicken mussten. Doch sie konnte ihrer Familie nichts raten und so brach langsam der Abend herein und es wäre unsinnig gewesen, jetzt noch jemand loszuschicken.
Aeluin hingegen sank nun ins Traumland und erlebte dort prickelnde Dinge.
25. Juni 3016 DZ Vormittag
Ein Glücksgefühl machte sich in ihr breit und langsam entglitt ihr der Traum und sie bemerkte, das Rufen der Kinder, die nun am Vormittag des nächsten Tages wieder auf der Lichtung in Fandasaf spielten.
Aeluin blieb noch eine Weile liegen und versuchte, den Traum der vergangenen Nacht zurück zu holen. Doch es gelang ihr nicht. Sie wusste nur, dass er schön gewesen war. Das überraschte Aeluin, denn bisher überwogen die Alpträume in ihren Nächten. Es kam selten vor, dass sie nach so einer schrecklichen Version wie der von Lundor, ihre Träume in eine andere Richtung lenken konnte. Schon gar nicht in eine positive.
Dann schlug sie die Augen auf. Es schien bereits wieder Vormittag zu sein und in der Nähe spielten die Kinder Hasche. Auch Diranion versuchte mitzuspielen, doch waren die anderen Kinder natürlich viel zu schnell. Aeluin setzte sich auf und rief nach Diranion. Erst nach einer Weile hörte er sie und sein Blick fand sie.
Aeluin hatte die Arme ausgebreitet und Dirianion verstand sofort, was das bedeutete. Mit einem Glucksen lief er in kleinen, tapsigen Schritten auf seine Tante zu. Aeluin streifte die Decke ab und stand rasch auf. Sie beugte sich hinunter, um ihren jüngsten Neffen aufzufangen. Dann drehten sie sich mehrmals im Kreis und Diranion flog. Sein ganzes Gesicht spiegelte die Freude und Wonne wieder, die er dabei empfand.
»Na, mein Kleiner«, rief Aeluin ihm zu, während sie sich noch drehten. »Du siehst unglaublich niedlich aus, mit deinen vier Zähnchen … Ui. Ich glaube, mir wird schwindelig. Dreht sich bei dir auch schon alles?«
Doch Diranion wollte natürlich lieber weiterfliegen, als aufzuhören. Doch Aeluin torkelte noch ein paar Schritte hin und her, bis sie wieder fest stand und sich nur noch die Welt um sie herum leicht drehte.
»Du kleiner Halunke«, sagte Aeluin und krabbelte ihren Neffen liebevoll. »Du hast mich ja schön hereingelegt. Deinetwegen habe ich geschlafen und das wollte ich doch gar nicht.«
Diranion kicherte und wand sich unter den Händen seiner Tante. »Du bist schon ein ganz Lieber, mein kleiner Mops.« Aeluin drückte Diranion fest an ihre Brust und drehte sich sanft um die eigene Achse. Diranion bedankte sich mit einem Kuss dafür. »Dankeschön!« Aeluin küsste Diranion und ging dann mit ihm in Richtung Lugreda, welche mit den anderen Erwachsenen ihrer Familie beieinander stand.
Aeluin hatte sehr gute Laune. Die Nacht hatte ihr einen angenehmen Traum gebracht und ihr Fieber vergehen lassen und Diranion hatte schon beim Aufstehen ein Lächeln auf ihr Gesicht gezaubert. So strahlte sie auch jetzt, als sie – Diranion noch immer neckend – bei den Erwachsenen stand und dem Gespräch nur halb folgte. Es ging scheinbar um Lundor, der nicht auffindbar war.
»Vielleicht hat er nur was schlechtes gegessen und will nun die Einsamkeit des Waldes nutzen, um sich in Ruhe zu erleichtern!« Aeluin sprach mehr zu Diranion, als zu den anderen. »Da will man niemanden bei sich haben, nicht wahr Diranion? Niemanden! … Niemanden!« Aeluin krabbelte Diranion, welcher sich unter Jauchzern hin und her wand.
Die anderen schauten Aeluin überrascht an, bis ihnen einfiel, dass sie ja noch nichts von Lundors Verschwinden wusste.
»Dein Bruder ist schon lange weg, Luin«, sagte ihre Mutter Aelandra. »Anscheinend ist er sogar schon seit gestern Mittag weg, wie Lendil gerade zugab.«
Aelandra strafte ihren jüngsten Sohn mit einem bösen Blick. Lendil stand mit gesenktem Kopf da. Ob er sich nun wirklich schämte oder nicht, konnte man nicht recht ausmachen.
»Seit gestern Mittag?«, fragte Aeluin. »Was ... Wieso ist er denn weg?«
»Das wissen wir nicht«, antwortete Lugreda. »Wir haben das ganze erst ziemlich spät bemerkt. Weil Lendil gesagt hatte, er hätte ihn noch am späten Nachmittag gesehen. Doch er hat geschwindelt.«
»Ist das wahr, Lendil?«, fragte Aeluin ihn.
Lendil schaute sie trotzig an und nickte dann. »Ich habe ihn nur am Vormittag gesehen. Da schlief er noch.«
»Aber warum hast du nicht gesagt, dass er verschwunden ist?«
»Weil er das einzig richtige getan hat: Er lässt sich von euch nichts mehr sagen und tut das, was er als Mann machen muss.«
»Als Mann?«
»Ja als Mann«, antwortete Lendil heftig. »Luin begreif doch, dass er erwachsen ist und sein eigenes Leben leben will. Du kannst ihn nicht immer wie einen kleinen Jungen behandeln.«
Aeluin lag schon eine passende Antwort auf der Zunge, doch dann fragte sie: »Und warum hast du nun dein Schweigen gebrochen? Du hast wohl eingesehen, dass sein Verhalten nicht richtig war?«
»Nein.« Lendils Stimme wurde lauter und wütend. »Er hat mir nichts gesagt. Dabei wusste er genau, dass ich auch mitkommen wollte.«
»Na wie schön, dass sich meine Brüder wenigstens gegenseitig verraten«, seufzte Aeluin. »Wen habt ihr hinterher geschickt?«
Aeluin schaute die anderen fragend um. Doch diese antworteten ihr nicht, sondern schwiegen. Aelandra schaute unglücklich. »Das ist es ja. Es war schon zu spät. In der Nacht hätte ihn ja keiner gefunden!«
»Das heißt, es ist noch niemand hinter ihm her gelaufen?« Aeluin konnte es nicht fassen. Wie konnten die anderen nur? Sahen sie nicht, was Lundor wahrscheinlich tun würde? Aeluins Herz setzt für einen Moment bei dem Gedanken aus. Sie sah ihren Bruder schon mitten in der Schlacht mit irgendwelchen bösen Männern, die keine Rücksicht auf ihn nahmen.
Aeluin setzte Diranion ab und blickte tatenkräftig in die Runde: »Und wen schicken wir nun hinterher?«
»Das ist das Problem, Aeluin«, antwortete Andirana. »Wir wissen nicht wen wir schicken sollen. Wir haben hier keinen Mann, der das machen könnte. Entweder sind sie zu alt oder zu jung. Lendil würde ja gehen …«
Aeluin ließ ein wütendes Schnauben vernehmen. »Eben«, fuhr Andirana fort. »Lendil soll ja auch nicht gehen. Großvater würde sich den Weg zutrauen. Aber er hat Vater versprochen, dass er bei uns Frauen bleibt und im Falle eines Angriffs auf unser Lager die Verteidigung leitet.«
Aeluin blickte kurz zu Lugerod. ›Ist er etwa auch einmal Soldat gewesen?‹ Doch das konnte sich Aeluin beim besten Willen nicht vorstellen. Ihr Großvater war Bauer durch und durch.
Ihre Gedanken wandten sich wieder Lundor zu. Fieberhaft überlegte sie eine Lösung. Aber die anderen hatten schon Recht: Die Männer, die da waren, waren einfach zu alt. Außerdem würden sie Lundor wahrscheinlich gar nicht finden und schon gar nicht zu einer Umkehr überreden können. Und die anderen waren zu jung. Sie würden den Ernst der Lage gar nicht erfassen und wahrscheinlich blind in eine Falle laufen.
Es blieb wohl nur eine Lösung: Sie musste selbst gehen. Aeluin war über diese Variante keineswegs erfreut. Sie wusste, dass es äußerst gefährlich war. Sie durfte Anthara auf keinem Fall zu nahe kommen. Egal, wie die Schlacht dort ausging – ein paar Männer würden bestimmt überleben und sich über eine junge Frau, die ganz allein ist, freuen.
Andererseits konnte sie Lundor nicht im Stich lassen. Sie würde es ihr Leben lang bereuen, wenn er getötet werden würde, und sie nichts getan und ihre Angst nicht überwunden hatte. Das hatte sie schon einmal getan und bei ihren Bruder würde sie nicht wieder so feige sein.
Sie nickte kurz und sagte bestimmt: »Ich gehe.« Dann drehte sie sich um, ging zum Wagen und kletterte hinauf.
Natürlich war die Aufregung am letzten Abend groß gewesen, als sie bemerkt hatten, dass Lundor unauffindbar war. Und als Lendil ihnen dann berichtete, dass er schon seit Mittag weg war, wussten sie natürlich wo er hinwollte. Zumindest nahmen sie dies an. Er war wohl auf dem Weg zurück nach Anthara. Und das obwohl er seinem Vater ein Versprechen gegeben hatte.
Als nun am darauf folgenden Morgen Aeluin davon erfuhr, wollte sie selbst die Initiative ergreifen und ihm hinterher. Schon war sie auf den Wagen geklettert und Andirana fragte sich, was sie da oben wollte. Sie lief ihr hinterher, sah zu ihr nach oben. »Aeluin, bitte, bleib hier! Er ist sicher schon fast wieder in Anthara, wenn er die Nacht durchgelaufen ist. Und da sind Vater, Areros und Nirion. Sie werden sich um das Problem kümmern. Du kannst doch nichts ausrichten!«Verzweifelt sah sie ihre kleine Schwester an. »Du weißt doch gar nicht was in Anthara gerade los ist. Du hast keine Ahnung was diese Halunken mit Frauen wie dir machen! Du kannst nicht gehen!«
Ihre komplette Familie dachte natürlich so. Lundor war schon längst über alle Berge. Aber Andirana wusste wie sie ihre Schwester davon abhalten konnte. »Gut … Wenn du gehen musst, dann komm ich mit!«
_________________________________________ Der Chara für alle Fälle …
Ihr benötigt den Nebencharakter (NPC)? Wendet euch bitte an einen Mod.
Aeluin hörte nicht auf die Worte ihrer Schwester. Sie wusste selbst, wie gefährlich es war in die Nähe dieser Männer zu kommen. Doch je mehr sie darüber nachdenken würde, um so eher würde sie den Mut verlieren und nicht aufbrechen. Aber sie musste Lundor hinterher – das wusste sie.
Sie befühlte ihr braunes Kleid. Es war natürlich am gestrigen Tag getrocknet. Lugreda hatte es sogar gewaschen und nun roch es nicht mehr nach kaltem Angstschweiß. Rasch zog es sich Aeluin über den Kopf und schnürte die Bänder so, dass ihr Körper betont wurde.
Dann packte sie alles ein, was sie ihrer Meinung nach auf dem Weg gebrauchen könnte: Ein scharfes Messer, eine Zunderbüchse, Verbandszeug und Salben, einen kleinen Topf mit Henkel zum Aufhängen, Verpflegung und noch vieles andere mehr. Da Aeluin oft mit Areros kleine Wanderungen über mehrere Tage gemacht hatte, wusste sie, was sie brauchte und was überflüssig war.
»Was ist, wenn Lundor in Wirklichkeit gar nicht nach Anthara gegangen ist, sondern irgendwo verletzt im Wald liegt? Andirana – ich muss ihn suchen. Keine Angst: Ich werde mich so weit wie nur möglich von fremden Männern fern halten.«
Das war natürlich eine fadenscheinige Ausrede. Die anderen hatten bestimmt auch bemerkt, dass Lundors Rucksack weg war.
Als Aeluin Andiranas Entschluss hörte, mitzukommen, hielt sie in ihrer Packerei kurz inne. Sie musste lächeln. Ihre übervorsichtige große Schwester, die ihrer Tochter nicht einmal ein scharfes Messer geben wollte, hatte vor mit in den Wald zu gehen, wo vielleicht mehr Gefahren lauerten, als Andirana je erlebt hatte.
Andirana hatte nie große Lust empfunden mit den anderen durch die Wälder zu stromern, draußen zu übernachten und einander Gruselgeschichten zu erzählen. Lieber war sie bei Aelandra geblieben und hatte ihr bei der Hausarbeit geholfen. Dadurch war sie auch zu einer bedeutend besseren Hausfrau geworden, als es Aeluin war.
»Andirana«, sagte Aeluin lächelnd. »Du weißt doch, dass du nicht mit kannst. Du hast drei liebe Kinder und du musst auf sie aufpassen!« Da die anderen mittlerweile auch um den Wagen herum standen und sie aufhalten wollten, sagte Aeluin nichts von dem vierten Kind.
Dann stand Aeluin auf und blickte sich suchend um, ob sie nicht noch etwas vergessen hatte. »Es muss doch auch zu etwas gut sein, dass ich noch keine Kinder habe!«
Die Worte der anderen perlten an ihr herab. Sie wollte erst einmal alles zusammen packen und dann versuchen die Mauer ihrer Familie zu durchstoßen und Lundor verfolgen. Dabei fiel ihr Blick auf das längliche Paket, welches ihr Rerlad am Abend der Abreise gegeben hatte.
›Was das wohl sein mag?‹, überlegte Aeluin. Sie setzte sich auf den Wagen und nahm das Päckchen auf ihren Schoß. Es schien eine ganze Zeit nicht geöffnet worden zu sein, denn die Schnüre waren schon steif vom Staub. Aeluin gelang es schließlich doch, es zu öffnen.
Darin war in groben Stoff eingewickelt eine Schwertscheide aus alt aussehendem, doch sehr geschmeidigem Leder. In das Leder eingelassene Ornamente verzierten sie. Jedoch so dezent, dass sie von weitem nicht als kostbar erkannt werden würde. In ihr steckte ein Schwert.
Langsam zog es Aeluin aus der Scheide. Sie hielt es vor sich und bestaunte das hellglänzende Metall. Viele Schwerter hatte Aeluin noch nicht gesehen, doch der ein oder andere Soldat hatte ihr seins mit Stolz gezeigt. Sie verstand auch nicht viel von Metall und was ein gutes Schwert ausmacht. Sie wusste, oder ahnte vielmehr, dass sie ein sehr wertvolles Schwert in der Hand hatte.
Es lag leicht in der Hand und war erstaunlich leicht. ›Vielleicht könnte ich es sogar mit einer Hand führen‹, überlegte Aeluin. Zart strich sie über die Klinge. Sie war ebenfalls mit Ornamenten versehen und seltsame Zeichen waren eingraviert, die Aeluin nicht lesen konnte.
Aeluin war von der Schönheit des Schwertes bezaubert, dass sie fast ihren selbstauferlegten Auftrag vergaß. Sie stand auf und ließ das Schwert durch die Luft sausen. Es gab einen melodischen Pfeifton ab.
»Ein Schwert!«, rief sie. Dann lachte sie auf. »Was um alles in der Welt soll ich mit einem Schwert?«
Aeluin schüttelte leicht den Kopf und steckte das Schwert zurück in die Scheide. Sie wollte es wieder weglegen und in die Tücher einpacken, doch dann überlegte sie, dass ihr das Schwert auf dem Weg vielleicht nützlich sein würde. Nicht, dass sie vorhatte einen Menschen damit zu töten. Das lag ihr mehr als fern. Doch sie konnte ihrem Gegenüber so vielleicht genügend Angst einjagen, dass er ihr nicht zu nahe kam.
›Dabei wird man mir das Schwert schneller aus der Hand schlagen, als mir lieb ist.‹ Sie schnallte das Schwert um ihre schmalen Hüften und merkte, dass es erstaunlich leicht war. Doch ungewohnt war es auf jeden Fall und einem Teil in ihr widerstrebte es, ein Schwert auch nur in der Nähe zu haben.
Sie setzte ihren Rucksack auf und atmete tief durch. Nun kam der schwierigste Teil. Sie musste ihre Familie überzeugen, dass sie Lundor suchen durfte. Gelenkig sprang Aeluin vom Wagen hinunter. Ihre Familie hatte sich bereits wie eine Mauer um sie herum gestellt.
»Bitte«, begann Aeluin. »Lasst mich gehen. Es ist schon viel zu viel Zeit verloren gegangen. Wenn ich nicht bald gehe, ist alles verloren. Möglicherweise liegt Lundor irgendwo schwer verletzt, von einem wildem Tier angefallen. Ihm muss doch einer helfen.«
Alle riefen nun, dass das ganze viel zu gefährlich sei – vor allen Dingen für eine Frau. Sie konnte nicht gehen.
Aeluin sah ein, dass sie so nicht weiter kam. Sie musste alle einzeln überzeugen, doch dafür hatte sie keine Zeit. Also nahm sie ihre Mutter ein paar Schritte zur Seite und begann mit ihr zu reden. Sie war immer noch die Person, die für Aeluin verantwortlich war.
»Mutter«, begann Aeluin. Ihre Stimme war ruhig, aber eindringlich. »Ich weiß, was du sagen willst. Und du hast auch recht. Es ist gefährlich, sehr gefährlich. Aber ich muss es tun …«
»Du musst gar nichts tun, Aeluin«, erwiderte Aelandra ebenso bestimmt. »Du musst in Sicherheit bleiben – das ist alles, was du musst.«
»Aber Mutter. Sollen wir Lundor einfach seinem Schicksal überlassen?«
»Er hat es selbst so gewollt. Das mag in deinen Ohren hart klingen, aber es ist so. Er hat sich dafür entschieden nach Anthara zurückzukehren und dort in der Schlacht mitzukämpfen. Es ist sein Leben, dass er da wegwirft. Ich möchte nicht auch noch meine Tochter verlieren!«
Aeluin bemerkte die Tränen in den Augen ihrer Mutter. Sie konnte es nachvollziehen, dass ihre Mutter sehr, sehr traurig war. War Aeluin schon tief betrübt, wie musste es erst ihrer Mutter gehen, die ihr Kind verlor? Aeluin legte sanft die Arme um den Hals ihrer Mutter und küsste sie auf die Wangen.
»Ich will ihn dir zurückbringen. Lebend und unversehrt. Ich habe Vater versprochen auf Lundor und Lendil aufzupassen und ich habe nicht vor, mein Versprechen zu brechen. Ich werde vorsichtig sein, Mutter. Du kennst mich doch. Ich begebe mich nicht mutwillig in Gefahr. Ich kann meine Stärken und meine Schwächen gut einschätzen und ich weiß, wenn ich einfach nur weglaufen sollte.
Ich habe große Angst, dass Lundor irgendwo verletzt liegt. Du kennst ihn doch. Er ist so naiv und gutgläubig. Wir können ihn doch nicht einfach im Stich lassen. Mutter. Was werden wir sagen, wenn wir irgendwo seinen tote Körper finden und wissen, dass wir einfach aus Frucht nichts getan haben?«
Aeluin merkte, wie ihre Mutter erbebte und dann laut aufschluchzte. Sie drückte sie noch fester an sich.
»Ich nehme mich in Acht, Mutter. Bitte. Lass mich gehen!«
Doch Aelandra drückte ihre Tochter noch fester an sich. Sie wollte sie nicht gehen lassen. Was, wenn sie dann statt einer Leiche, zwei Leichen finden würden? Aelandra durchdrang bei dieser Vorstellung ein tiefer Schmerz. Sie sah in ihren Kindern immer noch die kleinen Säuglinge, welche sie unter Schmerzen auf die Welt gebracht hatte und welche sie sich geschworen hatte zu beschützen. Komme was da wolle.
»Mutter. Ich … Ich verspreche dir, dass ich heute Nacht wieder hier bin.« Das schien ihr die einzige Lösung zu sein. Auch wenn Aeluin bezweifelte, dass sie es schaffen würde, Lundor bis dahin zu finden. Er hatte schließlich einen halben Tag Vorsprung.
»Versprichst du mir das, Aeluin?« Aelandra nahm den Kopf ihrer Tochter in die Hände und blickte ihr in die grünen Augen. Sie sah den entschlossenen Blick ihrer Tochter und sie ahnte auch, dass Aleuin ihr nicht die Wahrheit sagen würde, auch wenn sie es nun versprach. Doch wie sollte Aelandra ihre Tochter aufhalten? Würde sie nicht das selbe tun? War ihr Aeluin nicht unglaublich ähnlich?
Noch einmal drückte sie Aeluin an ihre Brust und strich über ihr dunkles Haar. »Pass auf dich auf Liebes. Geh keine Gefahr ein. Lundor wird schon damit fertig! Ich liebe dich, meine kleine Aeluin. Mögen die Valar dich beschützen.«
Endlich riss sie sich los und ging in schnellen Schritten davon. Sie konnte es nicht ertragen, ihre Tochter gehen zu sehen. Die Frauen verstanden, was geschehen war und zogen sich ebenfalls zurück. Nur Lendil stand noch in der Nähe und kam nun zu seiner Schwester.
Lendil trat zu seiner Schwester und blickte auf sie herab. Er war groß gewachsen und überragte selbst Areros ein kleines Stück. Sein hübsches Gesicht war ernst und auch seine Baritonstimme sprach Aeluin eindringlich an.
»Du weißt, dass du dich unnötig in Gefahr begibst. Du solltest das nicht tun, Aeluin.«
»Ich muss ihn finden, Lendil!« Aeluin sprach gehetzt, weil sie endlich los wollte.
»Lundor ist erwachsen. Du musst das endlich einsehen und ihn sein Leben leben lassen!«
»Ach Lendil. Ich habe keine Zeit für Diskussionen. Je länger ich warte, um so weiter entfernt sich Lundor von hier.«
»Dann nimm mich wenigstens mit. Es ist zu gefährlich für eine Frau allein. Ich würde dich beschützen.«
Das Verhältnis zwischen Lendil und Aeluin war nie so eng gewesen, wie das zwischen Areros und Aeluin. Das lag vielleicht daran, dass sie acht Jahre auseinander waren und Aeluin schon einen Lieblingsbruder hatte. Lendil hingegen war immer mit Lundor zusammen gewesen und hatte die gleichen Ziele, wie dieser entwickelt. Deshalb hatte sich Aeluin wohl nie die Zeit genommen mit Lendil ernsthaft über etwas zu reden.
»Lendil«, sagte nun Aeluin. »Du musst hier bleiben. Ich habe Vater versprochen, dass ich darauf achte, dass ihr hier bleibt. Und weil ich geschlafen habe, ist Lundor auf und davon … Du darfst nicht auch noch weg sein!«
»Luin. Du machst das doch nicht etwa, weil Vater gesagt hat, du sollst auf uns aufpassen. Himmel – er wäre der erste, der dich aufhalten würde.«
»Er wäre auch der erste, der hinter Lundor herlaufen würde. Aber er ist nicht da. Und auch Areros nicht. Also muss ich es tun. Ach, warum verstehst du das denn nicht?« Aeluin blickte ihn verzweifelt an.
»Ich verstehe dich, Aeluin. Du liebst Lundor und willst ihn vor allen Gefahren beschützen. Aber das kannst du nicht dein Leben lang machen. Du musst dein eigenes Leben führen. Konzentriere dich doch auf Leyron. Heirate ihn und bekomm Kinder. Und lass Lundor und mich unser Leben leben!«
»Ich mache das doch nicht, um euer Leben zu zerstören und nach meinem Willen zu formen. Aber ihr beide geht mit solch einer Naivität an das Thema heran, dass man nur den Kopf schütteln kann …«
»Ich weiß sehr wohl, dass es verdammt gefährlich ist Soldat zu werden. Ich weiß, dass uns schreckliches erwarten wird. Doch ich spüre tief in mir drin, dass ich kämpfen muss – für meine Familie, für Gondor und auch für mich selbst. Ich will, dass hier endlich Frieden ist und wir nicht immer vor dem Namenlosen in Angst und Sorge leben müssen. Ich will frei von dieser Angst sein. Und ich weiß, dass ich ein guter Soldat werden kann. Früher wusste ich nicht, wieso und warum. Aber nun weiß ich, dass Vater ein Soldat war und dass ich wohl seine Fähigkeiten geerbt habe.«
Lendil hatte heftig gesprochen, denn es war seine tiefste Überzeugung und Aeluin musste das endlich einsehen. Nun beruhigte er sich wieder und sagte ihn milderem Tonfall:
»Ich möchte gern wissen, warum Vater – obwohl er Soldat war – nicht will, dass wir diesen Beruf ergreifen. Bevor er uns weggeschickt hat, hat er nur Andeutungen gemacht. Aber er hat geweint. Luin, kannst du dir das vorstellen? Unser Vater hat geweint.«
Aeluin konnte sich das sehr gut vorstellen. Ihr Vater war ein starker und mutiger Mann. Selten konnte ihn etwas zu Tränen rühren, wenn dann waren es eher Freudentränen gewesen, als zum Beispiel seine Enkelkinder geboren wurden. Doch Aeluin erinnerte sich auch an die Zeit, als Lundor sehr krank war und mit dem Tode rang. Damals hatte ihr Vater geweint und es war das Traurigste, was Aeluin bis dahin gesehen hatte. Sie fühlte sich hilflos, weil ihr großer, starker Vater so traurig war und sie nichts tun konnte.
»Vielleicht ist es gut, dass Lundor mich nicht gefragt hat, ob ich mitkomme. Ich hätte bestimmt nicht gezögert und wäre mitgegangen. Dabei habe ich Vater mein Versprechen gegeben und hätte gewusst, dass ich das falsche tue. Ja, ich weiß, dass es nicht richtig von Lundor war, einfach so wegzulaufen. Ich sehe all die Traurigkeit in euren Augen. Mutter hat so geweint …«
Zwar fühlte sich Lendil schon erwachsen, doch ein Teil von ihm hing noch sehr an seiner Familie. Er war der Jüngste in der Familie und er hatte deshalb die Liebe seiner Mutter länger und intensiver erleben können, als seine älteren Geschwister. Oft war er noch zu seiner Mutter gelaufen und hatte ihre Umarmung genossen, als er eigentlich dafür schon zu alt war. Deshalb hatte sich zu ihr ein besonders inniges Band aufgebaut und sie weinen zu sehen, machte Lendil sehr traurig.
»… Und auch Vater wäre sehr enttäuscht von mir. Ich werde ihn erst anhören und dann entscheiden, ob ich meinen Traum vom Soldatentum aufgeben werde. Ich glaube es nicht, doch ich kann nicht einfach weglaufen und Vaters Worte ignorieren.«
Aeluin sah ihren Bruder plötzlich in einem ganz neuen Licht. Lendil war bedeutend vernünftiger, als sie es erwartet hatte. Sie dachte, dass er genauso wie Lundor einfach nur das Abenteuer suchte und nicht an die Konsequenzen dachte. Wahrscheinlich wusste er nichts weiter von den harten Seiten des Soldatenlebens, doch er verschloss nicht die Augen davor und sondern hinterfragte sie.
»Lendil …«, Aeluin fehlten die Worte. Deshalb stellte sie sich auf die Zehenspitzen und umarmte ihren kleinen Bruder. Sie küsste ihn auf die Wange und drückte ihn fest an sich. Auch er erwiderte die Umarmung.
»Pass auf die anderen auf, Lendil. Tröste Mutter …«
»Du hast nicht vor, heute Nacht wiederzukommen, nicht wahr?«, fragte Lendil sie.
Aeluin antwortete nicht sofort. Vielleicht war es besser, wenn einer der Familie wusste, dass sie wohl nicht zurückkam und die anderen beruhigte.
»Ich werde Lundor finden. Doch ich fürchte, dass ich es bis heute Nacht nicht schaffe. Vielleicht habe ich ihn bisdahin gerade einmal gefunden. Ich glaube nicht, dass wir dann noch zurücklaufen können …«
Lendil nickte. Es widerstrebte ihm, seine Schwester gehen zu lassen. Doch er kannte ihren Dickkopf und sie wäre so oder so gegangen.
»Lendil. Du wirst die anderen doch beruhigen? Ich bin wirklich sehr vorsichtig. Ich verspreche es.«
Lendil löste die Umarmung und hielt Aeluin einen halben Arm von sich weg. »Das mache ich. Ich bleibe hier und gehe erst nach Anthara zurück, wenn Vater es erlaubt. Pass auf dich auf Aeluin. Im Wald leben gefährliche Tiere!«
»Ich weiß, Lendil. Aber keines wird sich mit mir anlegen wollen. Ich kann kämpfen, wie eine Löwin!« Aeluin zwinkerte Lendil zu, der ihr ein Lächeln schenkte. Dann machte sie sich von ihm los und wollte endlich die Reise antreten.
Doch Lugreda stellte sich ihr noch in den Weg. In der Hand hielt sie zwei Marmeladenbrote. Sie hielt sie Aeluin hin und sagte: »Hier. Für den Weg. Du hast noch nicht einmal was gegessen.«
»Danke«, sagte Aeluin und versuchte die traurigen Blicke ihrer Schwester zu übersehen. »Ich muss los. Pass auf deine Söhne auf. Und verzieh sie nicht zu sehr!«
»Nein. Bestimmt nicht.« Lugreda atmete tief durch. Ihr fiel es schwer Aeluin gehen zu lassen, doch sie konnte nicht mit. Ihre Söhne waren wichtiger. »Gib auf dich Acht, ja?«
Aeluin nickte nur, nahm die Brote und ging los. Noch eine Umarmung ertrug sie nicht.
»Und wenn du einen tollen Mann im Wald triffst, dann sei nett zu ihm. Vielleicht ist er deine große Liebe!«
Aeluin drehte sich um und grinste Lugreda an. »Ja. Ich wollte schon immer einen Köhler heiraten, weil die so schön schwarz sind.«
Dann wandte sie sich wieder dem Weg nach Anthara zu und ging raschen Schrittes in die Richtung, die Marmeladenbrote genießend.
Aeluin schritt munter dahin und blickte sich nicht noch einmal um. ›Ich sehe sie ja sowieso bald wieder‹, sprach sie sich Mut zu, atmete tief durch und verließ die Lichtung. Bald verstummte das Kindergeschrei, denn die Hecke um die Lichtung dämpfte die Geräusche.
Aeluin schob den letzten Bissen des Marmeladenbrotes in den Mund und überlegte, wie sie am besten laufen sollte. Direkt auf dem Fahrtweg war zu gefährlich. Doch sie hatte Glück neben dem Hauptweg führten auch kleine Trampelpfade in etwa die gleiche Richtung. Zielstrebig ging Aeluin voran.
Zuerst nahm sie den Wald gar nicht wahr. Ihre Gedanken kreisten um Lundor und wie sie ihn wohl finden könnte. Darüber, wie sie ihn überzeugen sollte, mit ihr zurück zu kommen, wollte sie sich noch keine Gedanken machen. Die Hauptsache war, dass sie ihn erst einmal fand.
Nach etwa zwei Stunden kam sie auf eine kleine Lichtung, die gut einhundert Meter vom Hauptweg entfernt war. Auf ihr blühten Blumen in drei verschiedenen Farben: Leuchtend gelb, orangefarben und blutrot. Die Wiese sah aus, als wäre das Gras in Brand gesetzt. Über ihr flatterten Tagpfauenaugen, Bläulinge, Kleine Füchse und Schwalbenschwänze. Auch Bienen und Hummeln tranken sich am süßen Nektar der Blumen satt.
Aeluin blieb ganz verzückt stehen. Plötzlich nahm sie auch die hohen grauen Baumstämme der Buchen, Linden, Kastanien, Eichen und Erlen wahr. Ihre grünen Blätter leuchteten hell, wenn die Sonne durch sie schien. Und ihre Schatten bildeten auf dem Boden ein nie still stehendes Muster. Sträucher wie Haselnuss und Wachholder reichten den großen Riesen nur bis zum Knie. Auf ihnen saßen Vögel und sangen ihre Sommerlieder.
Aeluin ließ sich am Rand der Wiese nieder und betrachtete die farbenfrohe Vielfalt. Sie vergaß für den Moment Lundor und ihre eigene Angst und bestaunte die Schönheit der Natur. Ein Schwalbenschwanz kam angeflogen und setzte sich auf Aeluins braunen Rock. Er hob noch zwei, drei Mal die Flügel, breitete dann seine großen Schwingen aus und sonnte sich.
Ganz still saß Aeluin da und wandte ihre Augen nicht von dem Schmetterling. Dann hörte sie ein Rascheln im Gebüsch und ein Hase betrat vorsichtig die Wiese. Furchtsam schaute er sich um und fraß nur ab und zu ein paar Halme Gras. Aeluins Bein fing an einzuschlafen und sie musste sich rühren: Sowohl der Schmetterling, als auch der Hase verließen eilig und aufgeschreckt die Wiese.
Aus dem Rucksack holte Aeluin ihre Wasserflasche heraus und nahm einen Schluck. Hunger verspürte sie noch keinen. Am liebsten wäre sie hier geblieben und hätte den Tag in der Sonne und zwischen vielen Schmetterlingen verbracht. Doch sie hatte eine Aufgabe und der musste sie sich wieder widmen.
Sie überlegte, wo Lundor bereits sein könnte. Ob er schon in Anthara angekommen sei oder nicht. Doch der Weg dahin war weit und Lundor war ein ausgesprochener Langschläfer, wenn er die Möglichkeit dazu hatte. Vielleicht hatte sie ja noch die Möglichkeit ihn einzuholen.
Sie packte die Wasserflasche rasch wieder in den Rucksack und stand auf. Dabei kam ihr ein ganz neuer Gedanke und ließ sie inne halten: ›Was, wenn Lundor gar nicht nach Anthara unterwegs ist, sondern nach Minas Tirith?‹
Einige Augenblicke überlegte Aeluin und durchdachte diese Möglichkeit. Sie wurde in ihren Augen immer wahrscheinlicher. ›Lundor hätte nie direkt gegen Vaters Willen verstoßen. Außerdem würde er zu der Schlacht bestimmt zu spät kommen. Aber Soldat konnte er in Minas Tirith immer werden.‹
Aeluin ließ ein Fauchen, wie eine wütende Löwin vernehmen. Sie schlug nun einen Weg in Richtung Westen ein und bedachte ihren Bruder in Gedanken mit einer langen Strafpredigt.
Zielstrebig war Aeluin mehrere Stunden Richtung Westen gegangen. Hätte sie gewusst, dass es höchstens vier Meilen bis zum Waldrand war, wäre sie wohl aus dem Wald heraus gegangen. Doch so zog sie weiter und verließ den gefährlichen Wald nicht.
Am späten Vormittag hatte sie einen der Hauptwege überquert, der zu einem nördlich gelegenen Dorf führte, das Aeluin jedoch nicht kannte. Sie wusste nicht genau, wieviele Wege es durch den Wald gab und wohin sie führten. Im Westen musste sich jedoch die Südstraße befinden auf welcher sie sonst auch nach Minas Tirith gelangten.
Um die Mittagszeit machte die junge Frau an einem kleinen Bach Rast. Sie zog die braunen Schuhe aus und hielt sie in das kühle Wasser. Aus ihren Rucksack holte sie einen Laib Brot und Käse. Von beidem schnitt sie mit dem Messer ein Stück ab und verzerrte sie. Aus der Wasserflasche nahm Aeluin einige Schlucke, denn sie konnte die Flasche ja hier wieder auffüllen.
Die Sonne stand hoch am Himmel und ließ die Luft selbst im Wald sehr warm werden. Aeluin bemerkte, dass es ihr im Kleid zu warm wurde, deshalb beschloss sie es auszuziehen. Hier im Wald würde sie je niemanden sehen. Sie steckte auch ihr Haar hoch um den Wind an ihren Nacken zu lassen.
Sie stieg in den Bach und wollte sich das Gesicht und den Nacken kühlen. Doch als so da stand, dachte sie, dass sie sich gleich richtig waschen könnte, da sie es heute morgen versäumt hatte. Also fasste sie ihr weißes Leinenkleid am Saum an und zog es über den Kopf. Das Muster des Walddaches war nun auch auf ihrem Körper zu sehen.
Das Wasser war sehr frisch und Aeluin musste sich zuerst überwinden. Dann setzte sie sich jedoch in den Bach und benetzte ihre sonnengebräunte Haut mit Wasser. Aus ihrem Rucksack holte sie ein Stück Seife und begann ihren Körper damit einzureiben.
Aeluin bemerkte wie mit jeder Reibung die Müdigkeit aus ihren Körper verschwand und sie sich sauber fühlte. Zur Krönung fischte Aeluin auch noch ihre Zahnbürste heraus und putzte damit ausgiebig ihre Zähne. Anschließend spülte sie die Seife von ihren Körper und ließ das Wasser sanft um ihre Rundungen laufen.
Als das Wasser zu kalt wurde, stieg Aeluin aus dem Bach und legte sich ans Ufer. Sie blickte hinauf in den Himmel der hier und da durch das Blätterdach durch schien. Die Vögel zwitscherten und alles schien ruhig und friedlich.
Aeluins Gedanken bewegten sich hinweg vom Wald und kamen nach Anthara. Doch dort war in ihrer Phantasie kein Angriff böser Männer, sondern alles so friedlich wie hier. Aus dem Haus kam nun Leyron: Er hatte wieder sein braunes Hemd an und dazu passend die Hose. Um seinen Hals hing die Kette mit der kleinen Muschel. Seine Haare waren ordentlich gekämmt und sein Bart abrasiert. Auf seinem Gesicht lag ein zufriedenes Lachen. Er ging zu Bará, der Stute, die sonst Lundor immer ritt.
»Leyron«, flüsterte Aeluin und in ihrer Phantasie drehte sich Leyron in ihre Richtung um und sagte: »Ich komme schon, Aeluin.« Seine Stimme war rauh und ließ einiges erwarten. Während sich Leyron auf den Dunkelfuchs schwang, überrollte Aeluin eine Gänsehaut und sie legte schützend die Händer auf ihre Brüste.
In ihren Gedanken malte sich Aeluin aus, was wohl passieren würde, wenn Leyron da wäre, doch plötzlich schrie ein Eichelhäher. Rasch setzte sich Aeluin auf, die Hände noch immer auf ihren Brüsten. Schnell ließ sie ihren Blick umher schweifen, doch konnte sie nichts entdecken. Trotzdem hatte sie das Gefühl beobachtet zu werden.
Rasch holte sie ihr Unterkleid heran und schlüpfte hinein. Sie stand auf und blickte noch einmal umher. Der Wald war stiller geworden. Zumindest kam es Aeluin so vor. Ihr Herz klopfte und sie beschloss den Bach so schnell wie möglich zu verlassen.
Eilig packte sie ihr Kleid, die Seife, Zahnbürste und die Lebensmittel in den Rucksack. Sie hängte ihr Schwert um die Hüften und setzte den Rucksack auf. Sie watete durch den Bach, der ihre nackten Waden kühlte. Auf der anderen Seite zog Aeluin die Schuhe an und stolperte vorwärts. Immer wieder drehte sie sich um, denn sie hatte das Gefühl, dass jemand oder etwas sie verfolgte.
Aeluin lief weiter, schneller als am Vormittag, denn ein ungutes Gefühl hatte sich ihrer bemächtigt. Sie konnte es nicht abschütteln und so stolperte die junge Frau durch das Dickicht ohne weiter auf den Weg oder die Richtung zu achten. Allein, dass das, was sie verfolgte sie nicht erwischte, war wichtig.
Sie merkte deshalb nicht, dass sie in großen Schlenkern lief. Wäre sie einfach immer geradeaus gelaufen, hätte sie sogar den westlichen Waldrand bald erreicht. Auch dem nördlichen kam sie oft ganz nah, doch dann schlug sie wieder einen Haken und ging in die entgegengesetzte Richtung.
Unendlich schien Aeluin der Wald zu sein und langsam beschlich sie Furcht, dass sie nie aus ihm herauskommen würde. Während der letzten drei Stunden war sie durch die großen Umwege kaum drei Meilen vorangekommen.
Schnell atmend hielt Aeluin inne. Sie hatte kaum angehalten und nur ein paar Schlucke aus ihrer Wasserflasche getrunken. Doch nun neigte sich das Wasser darin seinem Ende zu und Aeluin musste bald einen neuen Bach finden. Normalerweise sollte das kein Problem sein, doch das ständige Gefühl verfolgt zu werden, hatte Aeluin nervös gemacht.
Unruhig blickte sie sich zum unzähligsten Mal um. Doch sie nahm weder den Verfolger, noch ein Plätschern in der Nähe wahr. Mutlos setzte sie sich auf den Waldboden, wo noch immer Reste des Laubes des letzten Herbstes lagen. Sie verbarg ihren Kopf in ihren Händen. Tränen wollten ihr aufsteigen, doch da raschelte es im Gebüsch.
Sofort sprang Aeluin auf und rannte weg, ohne sich umzudrehen. Sonst hätte sie bemerkt, dass es nur ein Fuchs war, er auf der Suche nach etwas fressbarem war.
Das starke Hämmern in ihrer Brust und die Kurzatmigkeit zwangen Aeluin nach einer Meile anzuhalten. Normalerweise war sie eine gute Läuferin – notgedrungen war sie zu einer geworden. Doch dann hatte sie keinen schweren Rucksack auf und kein Schwert umgehangen, was ihr ständig im Weg war. Nur die Angst war ähnlich, nein diese hier war nur halb so schlimm.
An einen Baum gelehnt stand die Schöne, bis ihr Körper wieder ruhig atmete. Schweiß rann zwischen ihren Brüsten und über ihre Wirbelsäule entlang. Für einige Moment schloss sie die Augen.
»Du musst vernünftig sein, Aeluin«, sprach sie leise zu sich. »Wenn du panisch wirst, findest du nie aus diesem Wald heraus. Also reiß dich zusammen!«
Mit der Hand wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Dann wagte sie sich umzuschauen, noch immer ängstlich ein wildes Tier zu erblicken. Doch nichts bösartiges sah sie. Der Wald war friedlich, wie am kleinen Bach.
Aeluin gestand sich ein, dass sie sich Sorgen wegen nichts und wieder nichts gemacht hatte. Tief atmete sie durch. Aus ihrer Wasserflasche nahm sie die letzten Schlucke. Ihre nächste Aufgabe bestand nun Wasser zu finden. Vorerst würde sie aber ihre aktuelle Lage bestimmen.
Forschend blickte sie nach oben und bemerkte, dass die Sonne auf ihrer rechten Seite stand. »Ich bin also nach Süden gelaufen und nicht nach Norden«, seufzte sie. Einen Moment überlegte sie, ob sie einfach weiter gehen sollte. Vielleicht war ja die Waldgrenze im Süden viel näher. Doch es ging ja nicht allein darum aus dem Wald zu finden. Sie musste Lundor suchen.
›Hoffentlich liegt er nicht verletzt hier im Wald‹, dachte sie erschrocken. ›Dann bin ich bestimmt schon an ihm vorbeigelaufen.‹ Ihre verschlungenen Wege hatten aber einen Großteil des Waldes oberhalb der großen Lichtung beinhaltet. Hätte also Lundor irgendwo verletzt gelegen, so hätte ihn Aeluin gefunden.
Nun musste sie weitergehen. Sie setzte sich den Rucksack bequemer auf und ging nun ruhig, aber zügig voran. Die Sonne versuchte sie auf ihrer schräg links zu sehen, um endlich nach Norden zu laufen. Hunger verspürte sie schon, sie wollte zuerst eine Quelle finden.
So lief Aeluin noch zwei weitere Stunden, bis sie endlich ein Plätschern vernahm. Der kleine Bach verlief aber scheinbar unterirdisch und floß nur hier und da über das weiche Waldgras. Es hätte zu lange gedauert dort die Wasserflasche aufzufüllen. Deshalb suchte Aeluin die Quelle. Ihr Weg führte auf einen kleinen felsigen Hügel.
Dort lag halb versteckt zwischen bemoosten Felsbrocken die Quelle. Aeluin trank mit ihren schlanken Händen vom kühlen Nass und hielt auch gleich ihre Wasserflasche hinein. Schnell war diese gefüllt und Aeluin hängte sie sich wieder um. Noch einmal trank Aeluin ausgiebig mit ihren Händen.
›Hier könnte ich eigentlich Rast machen und etwas essen‹, überlegte sie. Während sie nachdachte, was sie nun alles verspeisen könnte, geschah alles weitere blitzschnell. Ein unbestimmtes Gefühl drohender Gefahr blitzte in Aeluins Gehirn auf. Doch es war schon zu spät: Ein gräßlicher Schmerz im linken Oberschenkel ließ Aeluin aufbrüllen. Trotz allem vernahm sie ein wütendes und bedrohliches Fauchen und Knurren.
›Ich bin verloren‹, schoss es Aeluin durch den Kopf.
Während Aeluin glücklich über die gefundene Quelle ihren Durst stillte, hatte sie sich nur flüchtig umgeschaut und nichts vom Bewohner dieser Felsen bemerkt. Aufmerksam hatte er mit seinen gelben Augen, den Eindringling in seinem Lieblingsversteck beobachtet. Normalerweise schlief er den ganzen Tag über, um dann nachts zu jagen.
Als sich der Mensch näherte, war er jedoch aufgeschreckt. Seine feine Nase hatte schon zeitig den fremdartigen Geruch wahrgenommen. Dieser hatte nichts animalisches an sich, vom Schweiß einmal abgesehen.
Sofort witterte er Gefahr und setzte sich auf, die Ohren lauschend hochgestellt. Am klügsten wäre es wohl für ihn gewesen, einfach zu verschwinden. Doch er war neugierig, wer es wagte in sein Reich einzudringen. Der Mensch war viel größer als er selbst und es würde schwer werden, ihn zu töten.
Er beleckte sich die schmalen Lippen und überlegte die geschickteste Angrifftaktik. Normalerweise tötete er seine Feinde durch einen geschickten Biss in die Kehle. Doch dieser Mensch beugte sich über die Bachquelle. So würde er nicht an dessen Kehle heranreichen. Er durfte dabei nicht versagen, sonst wäre er selbst bald das Opfer.
Da – der Mensch lehnte sich zurück! Das war seine Chance. Blitzschnell sprang er auf leisen Pfoten von seinem kaum drei Meter entfernten Felsen hinab und rannte auf den Menschen zu. Doch dieser hatte sich bereits wieder über die Quelle gebeugt. Er merkte, dass der Mensch die Gefahr spürte und dass er handeln musste, wenn er nicht selbst in Gefahr kommen wollte.
Er holte aus und mit seiner rechten Vordertatze hieb er gewaltig in das felllose Bein des Menschen ein. Tief und fest versanken seine ausgefahrenen Krallen in dem Fleisch und hielten sich fest. Laut schrie der Mensch auf. Er selbst jedoch ließ ein bedrohliches Knurren vernehmen und sann über seinen nächsten Angriff nach.
Aeluin erschrak zu Tode. Sie wusste nicht, was geschehen war und wer sie angegriffen hatte. Nur eins wusste sie: Sie musste hier weg, um zu überleben. Mit aller Kraft zog sie ihr Bein weg, um über die Quelle zu krabbeln. Zuerst gab das Tier nicht nach, doch Aeluin war stärker. Die Krallen jedoch kratzen tiefe Spuren in ihren Oberschenkel, bis der Gegner endlich loslassen musste.
Die Schmerzen nahm Aeluin jedoch gar nicht wahr. In Todesangst krabbelte sie weiter und versuchte aufzustehen. Doch ihr linker Fuß trat unglücklicherweise auf die Schwertscheide. So stolperte sie und fiel abermals hin. Ihr entfuhr ein Schluchzer. Teils aus Angst, aber auch aus Wut über das Schwert.
Doch in ihrem Kopf machte es plötzlich Klick. Das Schwert war vielleicht ihre Rettung. Während sie noch weiterkrabbelte, versuchte sie mit Mühe das Schwert aus der Scheide zu ziehen. Als sie es endlich geschafft hatte, spürte sie, dass ihr Gegner sich schon wieder ganz in ihrer Nähe befand.
Rasch drehte sich Aeluin um. Wenn, dann wollte sie wenigstens sehen, wer ihr Angreifer und wie sie ihm entwischen konnte. Schwer atmend und furchtsam blickte sie in das fauchende Gesicht eines Luchses.
Der Mensch wehrte sich und zog sein Bein weg. Auch wenn der Luchs schon einige Rehe gerissen hatte, so besaß sein heutiger Gegner über bedeutend mehr Kraft. Doch er hatte nicht die Schnelligkeit, soviel spürte der Luchs.
Seine Krallen waren fest im Fleisch verankert, doch trotzdem gelang es dem Menschen sein Bein wegzuziehen. Der süßliche Geruch frischen Blutes stieg in die Nase des Luchses und stachelten seine Angriffslust an. Seine instinktive Einschätzung, dass der Gegner für ihn zu stark sei, wurde dadurch überhört. Das Fleisch roch anders, als das der Tiere, doch es wäre nicht weniger schmackhaft.
Dem Menschen gelang es nicht zu fliehen. Kriechend bewegte er sich fort und der Luchs wähnte sich schon als Sieger.
Erschrocken blickte Aeluin in die Augen der fauchenden Katze. Sie kannte sich mit diesen Tieren nicht aus und wusste daher nicht, dass Luchse selten Tiere über dreißig Kilogramm schlugen.
Aeluin fühlte sich klein angesichts der Raubkatze, denn sie lag fast auf dem Rücken. Sie spürte den warmen Rinnsal des Blutes, der ihren Oberschenkel hinabfloss. Doch die Schmerzen hatten noch nicht eingesetzt. Sie wagte es nicht, den Luchs aus den Augen zu lassen und starrte ihn an.
Langsam versuchte sie rückwärts zu kriechen. Der Luchs nahm das mit einem wütendem Fauchen wahr. Er ging einige Schritte auf sie zu. Instiktiv hielt Aeluin das Schwert hoch, um den Gegner abzuwehren. Ein schneller Hieb hätte ihren Gegner getötet.
Doch soweit dachte die junge Frau gar nicht. Sie bewegte sich rückwärts. Das Schwert schien den Luchs scheinbar abzuhalten, denn er blieb fauchend stehen. Mühsam kam sie auf die Beine. Schritt für Schritt ging sie nach hinten. Das Schwert hielt sie nun mit beiden Händen. Sie blickte in die Augen des Luchses und sah, wie dieser in Lauerstellung ging.
Die Raubkatze war gierig und vom süßen Duft des Blutes unvorsichtig. Den Stahl des Schwertes kannte sie nicht, doch instinktiv blieb sie auf Abstand. Der Mensch stand auf und war nun viel größer als der Luchs, der nur siebzig Zentimeter hoch war.
Als seine Beute nun nach und nach nach hinten ging, legte sich der Luchs in Lauerstellung. Mit seinen langen Hinterläufen wäre es ihm ein leichtes bis an den Hals des Menschen zu springen. Nun hieß es nur den passenden Zeitpunkt abzuwarten.
Doch dann geschah etwas unerwartetes. Während der Luchs tatsächlich vom Boden abhob, um sich auf Aeluin zu stürzen und ihr die Kehle durchzubeißen, verlor Aeluin den Boden unter den Füßen. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie dem Rand des Hügels schon gefährlich nah gekommen war.
Schreiend fiel sie zwei Meter in die Tiefe. Der Luchs, welcher hinterher kam, hätte diesen Fall unbeschadet überstanden. Doch Aeluin hatte noch immer das Schwert in den Händen und im Flug hielt sie es durch einen glücklichen Zufall so, dass der Luchs mitten hinein sprang.
Aeluin landete halb auf dem Rücken, halb auf der linken Seite. Ihre Arme hatte sie ebenfalls in die linke Richtung gedreht, um den Aufprall etwas abzumildern. Der Luchs flog dadurch einen Meter nach links durch die Luft und prallte gegen einen Strauch.
Für einige Schocksekunden blieb Aeluin still liegend, dann rappelte sie sich auf und lief so schnell, wie sie konnte weg. Sie machte sich nicht einmal die Mühe den toten Luchs anzuschauen. Heiße Tränen rannen ihr über das Gesicht, ohne dass Aeluin sie bemerkte. Drei oder vier mal stolperte sie und stürzte zu Boden. Doch immer wieder stand sie auf und rannte weiter bis sie die Schmerzen im ganzen Körper, aber vor allem in ihrem Bein nicht mehr ignorieren konnte.
Schluchzend sank Aeluin auf den Waldboden. Sie zog ihre Beine an und starrte zutiefst erschrocken geradeaus, ohne etwas wahrzunehmen. Ihr Körper zitterte und wurde von den tiefen Schluchzern geschüttelt. In Gedanken durchlebte Aeluin alles noch einmal. Als sie wieder am Boden und der Luchs nur einige Meter entfernt von ihr lag, hörte sie eine Stimme, die sie lange nicht mehr vernommen hatte, welche ihr aber durchaus vertraut war.
»Das hast du gut gemacht«, sagte Arendos mit seiner wohlklingenden, beruhigenden Stimme. »Du hast den Luchs besiegt. Du hast alles vollkommen richtig gemacht. Ich bin so stolz auf dich.«
Vor ihrem inneren Auge erschien ihr Großvater, den sie nie kennengelernt hatte, doch der für sie lange Zeit ein ständiger Begleiter gewesen war. Aeluin hatte das schon ganz vergessen, doch nun fiel es ihr wieder ein: Aneria hatte ihr mal von ihrem Mann erzählt und dass er, wenn er noch leben würde, ganz vernarrt in Aeluin sein würde.
Damals war sie vielleicht vier oder fünf Jahre gewesen. Seit diesem Tag war ihr Großvater ihr immer ein ständiger Begleiter gewesen, mit welchen sie unzählige phantastische Abenteuer erlebte. Er war sehr groß gewesen. Mit schulterlangem schwarzem Haar. Seine Augen waren so blau, wie die ihres Vaters gewesen. Immer war er für sie da: fröhlich, stark und aufmunternd. Am Ende jeden Abenteuers sagte er zu ihr: »Du wirst einmal ein großer Soldat, Aeluin.«
Als wäre es gestern gewesen – so genau erinnerte sich Aeluin daran. Ja, damals hatte sie davon geträumt ein mutiger Soldat wie ihr Großvater zu werden. Furchtlos und tapfer gegen die bösen Orks zu kämpfen und Denethors bester Mann zu werden. Ihr Großvater hatte sie in ihrer Phantasie immer dazu ermuntert, obwohl sie ein Mädchen war, was sie die anderen Jungs im Dorf immer hatten spüren lassen.
Doch irgendwann waren der Wunsch Soldat zu werden und auch die Abenteuer mit ihren Großvater verschwunden. Aeluin konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, warum es so gekommen war. Vielleicht war es ihr Vater gewesen, zu welchem sie ein immer innigeres Verhältnis bekam. Er sprach immer schlecht von Soldaten. Er hatte auch erwähnt, dass Großvater gefoltert worden war.
›Ob es daran gelegen hatte?‹, fragte sich Aeluin. Oder war es damals geschehen, als Lundor so schwer krank war und kaum noch Hoffnung auf sein Überleben bestand. Hatte sie damals aufgehört zu träumen, weil das Leben viel ernster und wichtiger war?
Sie konnte sich die Frage nicht beantworten. Aeluin war nur erstaunt, dass sie nun wieder die Stimme ihres Großvaters hörte. Nach all den langen Jahren. Die Stimme tat ihr übriges: Sie half Aeluin die Angst in sich zu vertreiben und machte ihr Mut.
Umständlich setzte Aeluin den Rucksack ab. Er hatte den Sturz vom Hügel abgefangen, so dass sich Aeluin außer ein paar Prellungen nichts zugezogen hatte. Schlimmer hatte es jedoch ihr Bein erwischt. Vorsichtig stand Aeluin auf, doch Schmerzen konnte sie so nicht vermeiden.
Sie hob ihr Unterkleid an und drehte sich so, dass sie die Wunden einigermaßen gut sehen konnte. Das Bein war blutverschmiert und noch immer floß ein warmer Rinnsal vom Oberschenkel, über die Kniekehle bis zu ihrem Fuß hinab. Das wäre für Aeluin aber alles halb nur so wild gewesen. Schlimmer fand sie, dass Dreck in der Wunde war und sie wusste, was sie nun tun müsste.
Am liebsten hätte sie es vermieden und einfach ignoriert. Doch sie wusste, dass sie daran sterben könnte, wenn sie die Wunde nicht ordentlich reinigte. Bisher hatte sie es immer tunlichst vermieden größere Wunden zu bekommen. Als Kind hatte ihre Mutter eine Platzwunde am Kopf, die ihr Lugreda zugefügte hatte, mit Alkohol gereinigt und sie hatte nie den Schmerz vergessen können. Bedauernd hatte sie immer zugesehen, wenn andere Familienmitglieder diese Prozedur über sich ergehen lassen mussten, glücklich darüber, dass sie unversehrt war.
Doch nun blieb ihr nichts anderes übrig, als die Wunde zu säubern. So sehr sie sich auch wünschte, es nicht tun zu müssen. Aus dem Rucksack holte sie frische Stofflagen hervor, die sie eigentlich für ihre Monatshygiene benutzte. Dann holte sie die kleine Flasche mit Alkohol heraus, die sie vorsorglich, samt einigen Salben und Kräutern mitgenommen hatte, aus Furcht Lundor irgendwo verletzt zu finden. Ihr wäre es auch tausend mal lieber gewesen, wenn sie nun Lundors Wunden hätte säubern können.
Tief atmete sie durch, bevor sie ein Stück Tuch mit Wasser aus ihrer Trinkflasche benetzte. Damit wischte sie zuerst das Blut und den Schmutz um die Wunde weg. Ganz vorsichtig war sie und bereit jeden Moment vor Schmerz aufzuschreien.
Als sie bemerkte, dass sie im Stehen nur schlecht an alle Stellen herankam, setzte sie sich hin und zog ihr Bein an. Den Fuß streckte sie senkrecht von sich weg. So gelang es ihr alle Stellen zu erreichen und sie konnte nun auch das Ausmaß der Kratzspuren erkennen: Vier tiefe Rinnen von etwa zwanzig Zentimeter Länge hatte ihr der Luchs zugefügt.
Behutsam säuberte Aeluin nun direkt die Wunden mit Wasser. Zwar hatte das Blut schon allerhand Dreck aus der Wunde gewaschen, doch Aeluin durfte sich nicht sicher sein, dass nun alles heraus war. Mit zitternden Händen nahm sie die kleine Flasche Alkohol zur Hand und zog den Korken heraus.
Der beißende Geruch des Hochprozentigen stieg ihr in die Nase. Automatisch hielt sie die Flasche eine Armlänge von sich entfernt. Vorsichtig schüttete sie etwas der Flüssigkeit auf einen neuen Lappen. Noch einmal atmete sie tief durch, dann berührte sie mit ihm ihre Wunde. Der Schmerz war entsetzlich: Alles brannte und am liebsten hätte sie ihr Bein abgehackt, um diesem Brennen zu entgehen.
Aeluin riss sich zusammen und zwang sich mit dem Alkohol ihre Wunden zu reinigen bis sie sicher war, dass kein Dreck mehr darin war. Aus ihren Mund kamen wimmernde Laute und über ihre Wangen liefen dabei Tränen des Schmerzes, die sie nicht aufhalten konnte – und hier in der Einsamkeit auch nicht musste. Anschließend legte sie einen Druckverband an, damit das Blut aufhörte aus der Wunde auszutreten.
Um sich vom brennenden Schmerz abzulenken wusch sie sich abermals das Bein, wo das Blut während der Behandlung wieder hinab geflossen war. Sie bemerkte die Blutspuren auf ihrem Unterkleid und beschloss es ein frisches anzuziehen. Bevor sie das neue anzog, besah sie ihren Körper nach anderen Wunden. Doch bis auf ein paar Prellungen und Abschürfungen am linken Ellenbogen und an den Händen, konnte sie nichts finden. Vorsichtshalber reinigte Aeluin auch diese mit der brennenden Flüssigkeit.
Mit dem Handrücken wischte sich Aeluin die Nase ab, ehe sie im Rucksack auch ein Taschentuch fand. Obwohl sie sehr hungrig war, brannten ihre Wunden so sehr, dass sie nicht ans Essen denken mochte. Stattdessen nahm sie nur einen großen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Durch das Säubern der Wunden war die Flasche schon wieder bis zur Hälfte leer. Sie musste sich also wieder auf die Suche nach einer neuen Wasserquelle machen.
Ihr Blick fiel auf das Schwert, welches vom Blut des Luchses rot gefärbt war. Im Nachhinein wunderte sich Aeluin, wie leicht das Schwert in den Körper des Luchses geglitten war. Die Rippen des Tieres leisteten keinerlei Widerstand.
›Ob es genauso leicht in einen Menschen gleitet?‹, dachte Aeluin mit einem Schaudern. Doch sie hatte keinen Menschen, sondern ein Tier getötet, wie sie es schon viele Male auf dem Hof ihres Vaters getan hatte. Menschen aßen nun einmal Fleisch und dafür musste ein Tier sterben. Aeluin hatte das früh gelernt und ihr Herz nie an Schweine, Kühe oder Hühner gehangen.
Sie nahm das Tuch, mit welchem sie auch ihre eigenen Wunden gesäubert hatte, und wischte das Blut des Luchses sorgfältig ab. Die verzierte Klinge war noch genauso scharf und silbern, wie vorher. Als wäre nichts weiter passiert. Mit einem Seufzer steckte Aeluin es in die Scheide.
Für einen Moment überlegte sie, ob sie wieder zur Lichtung zurück gehen sollte. Das wäre das Vernünftigste. Aber was würde aus Lundor geschehen? Niemals würden sie Aeluin wieder gehen lassen, wenn sie erst einmal vom Angriff des Luchses gehört hatten.
Aeluin konnte ihren jüngeren Bruder nicht einfach im Stich lassen. Sie schulterte ihren Rucksack, orientierte sich am Stand der Sonne und ging nun wieder nach Norden – die Schmerzen ihres Beines ignorierend.
Nach etwa einer Stunde kam Aeluin an einen kleinen Bach, der nun seitlich zu ihrem Weg verlief. Der Nachmittag hatte an ihren Kräften gezerrt und ihr Bein verlangte dringend nach einer Pause. Aufmerksam sah Aeluin sich um, doch sie konnte nichts gefährliches entdecken.
Zuerst füllte Aeluin die Wasserflasche auf und setzte sich dann an eine große Buche, die in der Nähe des Baches stand und ihre Zweige darüber gebreitet hatte. Vorher besah sie jedoch ihren Verband. Zu ihrer Freude schienen das Blut der Wunden schon geronnen zu sein, denn es waren keine Blutflecken auf dem Verband zu entdecken. Trotzdem legte sie vorsichtshalber ihr braunes Kleid als Decke unter sich, damit kein Dreck vom Boden in die Wunde gelangen konnte.
Aus dem Rucksack holte sie das Brot, den Käse und das Messer heraus. Ihr Bein legte sie dann vorsichtig auf den Rucksack, um das Bein zu entlasten. Ein Wimmern entwich ihren Mund und sie wischte die Tränen weg, die ihr immer wieder über die Wangen liefen. Das Brennen des Alkohols hatte zwar nachgelassen, aber nun gaben die Wunden einen endlos stechenden Schmerz von sich.
Aeluin lehnte sich zurück und versuchte ihre Gedanken auf etwas anderes zu konzentrieren. Doch ihr ganzes Gehirn war von den Schmerzen eingenommen. Ihr Blick bewegte sich verzweifelt hin und her, als könnte sie irgendwo etwas entdecken, dass sie ablenkte.
Sie nahm das Brot zur Hand und schnitt mühsam eine Scheibe davon ab. Auch beim Käse rutschte sie mehrmals ab. Mit winzigen Happen zwang sich Aeluin, Nahrung zu sich zu nehmen. Geschmack nahm sie nicht wahr. Allerdings lenkte sie das Kauen etwas von den Schmerzen in ihrem Bein ab.