Warum sollten wir auf alles verzichten? Bloß weil die Leute über mich murren? ... Ellena sah ihren Bruder mit großen Augen an. Sie hatte gar nicht ihn gemeint, sondern sich selbst. Sie war in Minas Tirith als ein billiges Flittchen abgestempelt worden, das jeden Mann in ihr Bett lies, als sie gerade einmal sechzehn Jahre alt gewesen war. Jemand, den man nicht zu einem Kaffee einlud oder sich schon gar nicht mit ihr in der Öffentlichkeit zeigte. Dann war sie schwanger geworden und die Gespräche und missbilligenden Blicke hatten noch mehr zugenommen. Aber hatte Bardos nun ähnliche Probleme?
Nun lauschte das Mädchen den Worten ihres Bruders, als er berichtete, dass es da wohl ein Mädchen gab. Wo lebte sie denn, wenn er sie mit nach Minas Tirith nehmen wollte. Wer war sie und woher kannte Bardos die junge Frau? Ellena wusste gar nicht ob sie sich für Bardos nun freuen sollte oder nicht. Sie selbst hatte schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht und nie eine wirkliche Beziehung genossen. Doch Bardos war sicher anders als all die Soldaten, mit denen sie das Bett geteilt hatte.
Und ich werde sie mit nach Minas Tirith nehmen. Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast. ... Irritiert sah Ellena ihren Bruder an. „Und wenn ich etwas dagegen hätte? Dann würdest du sie doch trotzdem mitnehmen. Also frag mich doch erst gar nicht.“ Ellena hielt inne, denn plötzlich war von draußen einiger Trubel zu hören. Ein paar Frauen schoben sich in das Gasthaus und schauten durch die Tür nach draußen. Ellena wusste nicht was dort vor sich ging. Bardos allerdings war sofort aufgesprungen.
Bardos warf seiner Schwester einen verblüfften Blick zu. Zuerst wusste er gar nicht, was er von ihrem Einwurf halten sollte, denn früher hatte sie nicht so reagiert. Ihr Verhältnis war viel mehr gespalten, als es der junge Mann, in seiner übergroßen Freude seine Schwester lebend wieder gefunden zu haben, gedacht hatte. Zum Antworten kam er nicht mehr, weil draußen vor dem Gasthaus Adlinns Hunde angefangen hatten zu bellen und Bardos auch ihre Stimme vernommen hatte.
Vor dem Gasthof
Sofort sprang Bardos auf und drängte sich zwischen den Frauen nach draußen. Sein Schwert hatte er in der Gaststube abgenommen, doch seine Fäuste waren es gewohnt auf andere einzuschlagen. Deshalb ging er auch furchtlos auf den Angreifer Adlinns, der als Einziger übrig geblieben war, zu. Normalerweise hätte er einfach zugeschlagen, aber der Mann hatte noch Adlinns Haare in der Hand. Deshalb legte Bardos seinen Arm um den Hals des Mannes und zog ihn an sich heran, wohl wissend, dass er dem anderen die Luft damit abschnürte.
»Lass sie los«, zischte er dem Mann ins Ohr und als dieser nicht gleich gehorchte, drückte Bardos mehr zu. Mit hochrotem Gesicht ließ er endlich Adlinn los. Bardos zog ihn ein Stück nach hinten und drehte ihn um, um ihn mit seinen Fäusten zu bearbeiten. Zwei, drei Schläge konnte er ausführen, dann landete er auf dem Boden, weil er über Gul gestolpert war. Nun richtete sich dessen Agression gegen Bardos und er knurrte ihn böse an, während sich der andere davon stehlen konnte. Bardos lag auf der Seite und wagte sich nicht zu rühren. Seine Hand tastete vorsichtig nach seinem versteckten Messer, um sich gegen Gul zu verteidigen.
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Nur wer seine Rechnungen nicht bezahlt, darf hoffen, im Gedächtnis der Kaufleute weiterzuleben. (Oscar Wilde)
Adlinn war zutiefst erleichtert, als der Angreifer unter Bardos Würgegriff ihre Haare losließ. Sie taumelte nach hinten und lehnte sich gegen den Wagen, schweratmend. Dabei beobachtete sie, wie der Angreifer sich umdrehte und Bardos einige gezielte Schläge auf ihn niederregnen lies. Sie trafen den Mann gegen den Kiefer und in den Magen, und er machte schnell einen leicht angeschlagenen Eindruck.
›Dem Himmel sei Dank, dass er gekommen ist!‹, seufzte sie inständig und dankbar. Doch dann überstürzten sich die Ereignisse, Bardos stolperte nach hinten, weil Gul im zwischen die Beine geraten war und nun begann der Hund Bardos zu attackieren. Der Schwarzhaarige stand noch wankend für ihr, doch er würde ebenfalls jede Chance nutzen, um Bardos zu treten, da war sich Adlinn totsicher.
Blitzschnell legte sie Ban auf den Wagen und schubste den Schwarzhaarigen von hinten, der prompt über den am Boden liegenden Bardos stolperte, taumelte nach zwei, drei Schritten der Länge nach hinfiel. Adlinn hörte seine Kiefer deutlich aufeinander schlagen und sah, wie er ein paar blutige Zähne ausspuckte. Sie selbst schoss nach vorne und warf sich der Länge nach auf Gul, so dass sie in einem Knäuel aus Hundefell und Röcken über den Boden rollten.
Gul, der überrascht jaulte, biss sie glücklicherweise nicht, sondern fing sich wieder und lies sich dann von Adlinn am Halsband festhalten. Eilig musterte sie Bardos, doch sie konnte keine Bisswunden erkennen. Hoffentlich hatte er auch keine!
Dann ging sie schnellen Schrittes auf den Schwarzhaarigen zu. »Du wolltest ein Küsschen, ja? Willst du vielleicht mal meinen Hund küssen, Mann?« Drohend lies sie Gul nach vorne schnellen und es sah fast so aus, als könnte sie den großen Hund nicht festhalten. Der Schwarzhaarige kam eilig auf die Beine und offensichtlich zu dem Schluss, dass er genug von all dem hatte. In schwankendem Laufschritt verschwand er hinter einen der Gebäude. »Tut mir leid«, rief er nuschelnd. »War ja nicht abzusehen, dass du einen Mann dabei hast!«
Adlinn schüttelte den Kopf und pfiff Rugul herbei, der nur leicht hinkte und anscheinend nicht viel abbekommen hatte. Sie herzte ihn kurz und knautschte sein Ohr, dann band sie die beidne mit einer festen Leine an den Wagen fest.
Dann kniete sie neben Bardos in den Straßenstaub. Glücklicherweise sah Bardos nicht verletzt aus. »Wie geht es Euch? Gut?« Sie klopfte ihm den Staub vom Hemd. »Danke, «flüsterte sie dann leise. »Ohne Euch wäre Ban sicher verletzt worden.« An sich selbst hatte sie noch kaum gedacht. Von Dankbarkeit überwältigt beugte sie sich runter und drückte Bardos einen Kuss auf die Wange.
Ellena war auch langsam vom Tisch aufgestanden und folgte ihrem Bruder nach draußen. Allerdings blieb die junge Frau an der Tür des Gasthauses stehen, als sie sah was dort am Wagen vor sich ging. Ein Mann bedrohte Adlinn und die Hunde spielten bereits verrückt. Bardos kam der jungen Mutter sofort zur Hilfe und konnte schließlich wirklich etwas gegen diesen Fremden ausrichten.
Schon sehr mutig, wie sich Adlinn dann auf ihren Hund stürzte. Ellena hätte dies wohl nicht gemacht. In einer solchen Situation konnten Tiere, welche sich in die Enge getrieben sahen, unberechenbar reagierten, selbst wenn sie sonst die frommsten Lämmer waren. Doch Gul blieb zum Glück ruhig und schon bald hatte Adlinn den Hund unter Kontrolle. Die fremden Männer flüchteten schließlich zu aller Erleichterung. Nein, man ist wirklich nirgendwo sicher, dachte sich Ellena, während sie zusah, wie Adlinn ihrem Bruder einen Kuss aufhauchte. Nicht mal hier in einem so bescheidenen Dorf. Hinter jeder Ecke konnte ein Undar lauern. „Fahren wir weiter?“ fragte Ellena die beiden, als sie selbst am Wagen ankam, ohne sich nach Bardos Wohlbefinden zu erkunden. Bardos saß noch immer am Boden und der kleine Ban zwischen den Habseligkeiten auf dem Wagen. Fröhlich zog er an einem Wollknäuel, so dass sich dieser auflöste.
Adlinn war zum Glück schnell genug, um Bardos vor Gul zu retten. So musste er nicht mit einem wildgewordenen Hund retten, was für ihn böse hätte ausgehen können. Er rappelte sich auf und schaute dann verblüfft zu Adlinn, welche nun - mit Gul an der Hand - dem Mann durchaus zeigte, dass man sie zu fürchten hatte. Nachdenklich kratzte Bardos sich am Kopf. Er war es nicht gewohnt, dass Frauen so handelten.
»Wenn alle Frauen so wären, bräuchte man bald keine Männer mehr«, murmelte er.
Nun kam Adlinn zu ihm und kniete sich neben sie. »Ach mir geht es gut«, meinte Bardos nur. Tatsächlich hatte er nur ein paar blaue Flecke vom Sturz abbekommen und sein Hemd war staubig geworden.
Adlinn sprach mit viel Wärme, als sie sich leise bei ihm bedankte. Sie hatte sich wirklich um ihren kleinen Sohn gesorgt, was Bardos ein Lächeln auf das Gesicht zauberte. Der Kuss war ihm im ersten Moment unangenehm. Schließlich wollte er Adlinn nicht Hoffnung auf etwas machen, was er ihr nicht geben konnte. Aber er vermutete, dass der Kuss völlig harmlos war und kein Annäherungsversuch war.
Grinsend stand Bardos auf und hielt Adlinn dann die Hand hin, damit er ihr aufhelfen konnte.
»Zu meinem Leidwesen, habt Ihr mich gerettet! Wie Ihr gezeigt habt, sollte sich jeder Mann vor Euch in Acht nehmen! Ich hoffe, dass Ihr nie die Hunde auf mich hetzt!«
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Nur wer seine Rechnungen nicht bezahlt, darf hoffen, im Gedächtnis der Kaufleute weiterzuleben. (Oscar Wilde)
Adlinn war nach dem Kuss errötet, hoffentlich interpretierte Bardos nicht mehr hinein, als sie geben wollte. Doch als er aufstand, sein Hemd abklopfte und sie lobte, musste sie grinsen und ließ sich gerne aufhelfen. Dann schüttelte auch sie den Staub aus dem Rock, der nach all dem Tumult in jeder Naht festsaß. »Nun ja, « antwortete sie. »Als Frau steht man eben manchmal schnell mit dem Rücken zur Wand... oder zum Wagen,« lächelte sie und wies mit dem Kinn zum Wagen. »Da ist es manchmal gut, wenn man an den Fingern auch Krallen hat. Oder zwei große Hunde in der Nähe.«
Sie ging an Bardos' Seite zu Ellena, die darum bat, weiterzufahren. »Ich halte das für eine gute Idee«, stimmte ihr Adlinn schnell zu und blickte zu den Dorfbewohnern, die immer noch klatschend herumstanden. Wenn Ellena im Gasthaus das Gefühl hatte, dass alle sie anstarrten, so starrten und redeten die Leute nun wirklich über sie alle.
Sie blickte Bardos an, half Ellena auf den Wagen und setzte Ban, der ihre Wolle in Unordnung gebracht hatte, wieder in seinen Korb. Das zerstörte Wollknäuel ließ sie ihm, da sie weitere Szenen vermeiden wollte. Als sie schwungvoll aufstieg und nach den Hunden pfiff, rief sie ihm zu: »Wollen wir? Oder könnt Ihr nicht auf den letzten Rest Apfelkuchen verzichten, junger Mann?«
Dass er gekommen war, um ihr zu helfen, verlieh ihr bereits wieder gute Laune, und sein Lob ehrte sie sehr.
Bardos hatte nicht auf ihre Worte reagiert. Im Grunde war es momentan auch egal, denn der junge Mann schien mehr mit der fremden Lady beschäftigt zu sein. Doch Adlinn schien durchaus dafür weiter zu fahren. Gerne ließ sich Ellena auf den Wagen helfen. Adlinn wusste schließlich wie hinderlich so ein dicker Bauch war und wie mühsam es manche Dinge machte, welche sonst so leicht von der Hand gingen. Von den Rückenschmerzen mal ganz abgesehen …
Schließlich saß Ellena wieder auf dem Kutschbock und auch Adlinn war aufgestiegen. Ban saß mit seinem Wollknäul vergnügt im Körbchen. Ellena ließ ihren Blick schweifen und entdeckte die beiden Hunde, welche sich nun wieder beruhigt hatten. „Er humpelt“, meinte Ellena und zeigte auf Gul. „Soll er nicht lieber hinten auf dem Wagen mitfahren?“, fragte das junge Mädchen nun. Aber es war Adlinns Hund. Sie musste wohl am besten wissen, was gut und was schlecht für ihre Vierbeiner war.
Mit einem Lächeln sah Bardos Adlinn an. In der kleinen Frau steckte mehr, als man von außen sah. Anerkennend nickte er ihr zu.
Gemeinsam mit Adlinn ging er zum Wagen und die Frauen beschlossen gemeinsam, dass sie losfuhren. Da konnte Bardos schlecht dagegen etwas sagen. Aber auf seinen Apfelkuchen wollte er ganz und gar nicht verzichten. Schließlich hatten bisher nur die Frauen etwas davon abbekommen und er nicht.
»Nein kann ich nicht«, antwortete Bardos. »Aber ich kann ihn auch auf dem Pferd essen. Bin gleich wieder da!«
Mit langen Schritten lief Bardos in das Gasthaus zurück, an den Tisch, wo auch noch sein Schwert hing. Das schnallte er sich um und nahm das Blech mit dem Apfelkuchen mit. Bei dem Geld, dass er bezahlt hatte, konnte sich die Wirtsfrau ein neues kaufen. Er nahm auch das Päckchen mit dem eingepackten Kuchen mit. Schließlich hatte er sich jetzt noch mehr den Kuchen verdient.
Dann ging er hinaus zu den Frauen, die bereits den Wagen gewendet hatten. Er legte den eingepackten Kuchen auf die Ladefläche und drückte dann Ellena das Kuchenblech in die Hand. Mit Eleganz stieg er auf Thalion auf und nahm Ellena das Blech wieder ab. Dann biss er in eines der Stücken und seine Miene hellte sich auf.
Mit einem wohligen Seufzer sagte Bardos: »Von mir aus kann es weiter gehen!«
Adlinn blickte zu Bardos, der sich auf sein Pferd geschwungen hatte und schüttelte schmunzelnd den Kopf. ›Jetzt hat er sich tatsächlich noch den Apfelkuchen mitgenommen‹, dachte sie. ›Wir sind aber auch kein bisschen verfressen, was, edler Herr?‹
Dann musterte sie besorgt Rugul, der hechelnd neben dem Wagen herging. Er hinkte auf dem linken hinteren Fuß, machte aber sonst keinen angeschlagenen Eindruck. Wären sie zuhause in Gurtanar gewesen, hätte sie ihn für ein paar Tage nicht mit zu den Herden genommen um ihn zu schonen. Aber ihn auf den Wagen laden? Sie hatte noch keine Erfahrungen damit, ihre Hunde auf dem Wagen mitfahren zu lassen und konnte nicht einschätzen, ob dies ihnen behagen würde. Wenn Rugul dann plötzlich runtersprang, konnte er sich noch mehr verletzen.
»Nein, ich lade ihn erstmal noch nicht auf«, antwortete sie dann Ellena. »Aber ich behalte ihn im Auge, wenn es schlimmer wird, muss es wohl sein.«
Dann lenkte sie den Wagen wieder auf die Straße, von der sie gekommen waren und trieb sie Pferde an.
»Nun denn,« sagte sie dann munter, als ihr der frische Wind durch die Haare blies. »Lasst uns noch ein paar Meilen zurücklegen, bevor es zu dämmern anfängt!«